Etwas mehr als sechs Wochen - und dazwischen ein Cocktail aus Gefühlen, von himmelhappy zu seelenbetrübt von vogelleicht zu steinschwer. An allem ist Ungarn schuld, zumindest das ungarische Wetter, die gleich hinter der Grenze zirpenden Grillen hätten dabei Warnung genug sein sollen. Stattdessen zunächst Konzentration auf die Ortsschilder, bei deren Namen man sich die ganze Zeit fragt, wie es anatomisch möglich ist, sie unfallfrei auszusprechen. Bugacpusztaháza. Jászfelsőszentgyörgy...
Die Sache mit den Grillen allerdings holte mich dann doch schnell ein; die singen nämlich ab 23 Grad, lehrt das Internet. Aber weil ich meine Reise bis dahin weitgehend in höheren Lagen verbracht hatte, waren sie mir bisher nicht begegnet - und der plötzliche Sommerfrühling in der Tiefebene mit 38 Grad folglich ein Schlag auf den Kopf. Quasi vom Schnee direkt in die Hitze der pusztischen Wüste.
Insofern beruhte die anfangs beschriebene schlechte Laune der Ungarn wenigstens auf Gegenseitigkeit. Aber auch rückblickend auf die vergangenen Tage bleibt Ungarn gegenüber ein zwiespältiges Gefühl. Trotz der großzügigen Gastfreundschaft und vielen auch warmherzigen Begegnungen, an die ich mich mit einem Lächeln im Herzen erinnere, sofern das - Stichwort Anatomie, siehe oben - möglich ist. Die gebackenen Überraschungen, die morgens vor der Pensionstür warteten als wäre Nikolaus, die geschenkten Bücher, die Souvenirs - und nicht zu vergessen die Hilfsbereitschaft, wie etwa in dem Moment, als der alte Volvo wegen einer Unachtsamkeit mit einem Rad im Graben hängen blieb und mehrere Männer und Frauen herbei sprangen, um mir aus der Klemme zu helfen.
Und doch. Früher ist Ungarn für alle Ossis immer eine große Sehnsucht gewesen; Ungarn war das Italien des Ostens. Viel freier als die DDR; es gab Privatwirtschaft, in den Geschäften konnte man Produkte aus dem Westen kaufen, der Urlaub am Plattensee unter all den ebenfalls urlaubenden Wessis fühlte sich an wie in einer freien Welt, für einen Moment war man ein Teil davon; das sozialistische Ungarn führte eine Art Kompromiss mit dem Volk, Gulaschkommunismus, daher der Name. Und später öffneten sich eben dort für Flüchtlinge aus der DDR die Grenzen nach Österreich. Insofern - Heldenland, in der Erinnerung.
Und jetzt? Scheint sich der Staat zu verlieren. Jemand sagte mir hinter vorgehaltener Hand: "Die Ungarn verkaufen ihre Seele." Ungarn gilt als eines der korruptesten Länder in der Europäischen Union. Es gibt keine Pressefreiheit. Es gibt keine Meinungsfreiheit. Homosexuelle werden drangsaliert. Migranten diffamiert. Es ist ein autokratischer Staat; der Journalist Stephan Ozsvath nennt Ungarn einen putinschen Hybriden in der EU. Und wenn dennoch die Bürger zum großen Teil hinter Ministerpräsident Viktor Orbán stehen, liegt es daran, dass ein Teil der Mittelschicht offenbar ganz gut mit ihm fährt, Rentner und Familien genießen starke Vergünstigungen; ab drei Kindern etwa werden Verheirateten Kredite vom Staat erlassen, immerhin 30 000 Euro.
Zugleich verzeichnet Ungarns Wirtschaft - dank Hilfe von außen - ein respektables Wachstum (mal abgesehen vom coronabedingtem Dämpfer), es gehört zu den wachstumsstärksten Ländern in der Europäischen Union. Kein Wunder also, dass Orbán vor Selbstvertrauen strotzt und sein Land zur neuen Avantgarde erklärt. Er sagt: "Früher haben wir geglaubt, dass Europa unsere Zukunft ist. Heute spüren wir, dass wir die Zukunft Europas sind."
Und wenn man sich nun fragt, wie Ungarn seine emotionale Wärme verlieren konnte, hilft vielleicht ein Blick auf das Verhältnis des Westens zum Osten: Wer sticht den Spargel, pflückt die Erdbeeren, pflegt zu beschämend geringen Löhnen die Alten? Wertschätzung und Respekt sind keine Einbahnstraße, heißt es - und insofern trägt auch Deutschland (ein Viertel des ungarischen Aussenhandels entfällt auf die Bundesrepublik) Verantwortung für den geistigen Wandel.
Ich hatte es schon geschrieben: Bei meinen Gesprächen gab es niemanden, der öffentlich über Politik reden wollte; es sei denn, derjenige war kein Ungar; "man interessiere sich nicht dafür", hieß es immer wieder. Natürlich könnte man jetzt Politik Politik sein lassen und sich auf die schönen Momente, auf die angenehmen Aspekte konzentrieren, aber das Ganze hat Folgen, auch fürs Gefühl. Die Geschichte hat oft genug bewiesen und tut es gerade wieder: Auslöser für Krieg und Krisen waren immer Machtanspruch, ethnische Konflikte und Religion.
Und so ist vielleicht die Schroffheit, die mir auf dem Weg teilweise so deutlich begegnete, auch eine Folge der politischen Entwicklungen, eine Art innere Emigration. Oder Fatalismus.
Insofern - Ungarn, ein Stück weit enttäuschte Liebe.
Schon vor mehr als 1000 Jahren zog es deutsche Siedler nach Ungarn, zumeist Auswanderer aus Süddeutschland, dem Rheinland und von der Mosel. Ihre Kenntnisse in der Landwirtschaft und im Handel sorgten für bescheidenen Wohlstand in der Dörfern der Batschka und des Banat. Man nannte sie pauschal "Schwaben". Als "Ulmer Schachtel" wurden die hölzernen Einwegboote bezeichnet, mit denen sich die Siedler auf den Weg machten - über die Donau, Richtung Südosten. Die Mutigsten trug es bis über das Donaudelta hinaus, die meisten aber ließen sich zu beiden Seiten der Donau nieder. Die NS-Zeit schließlich spaltete donauschwäbische Familien und Dorfgemeinschaften, die einen unterstützten die Nazis, andere taten es nicht; nach 1945 wurde im Zuge der Bodenreform und als kollektiver Ausgleich für die Mitschuld am Krieg alle Ungarndeutschen enteignet, 170 000 mussten ihre Heimat verlassen; der Schock wirkte lange nach. Heute stellen die "Donauschwaben" die zweitgrößte nationale Minderheit. Seit 1989 entstanden 400 sogenannte deutsche Selbstverwaltungen, die helfen sollen, die Interessen der Ungarndeutschen umzusetzen und deren Traditionen zu pflegen.
Die Ortsschilder - sind häufig zweisprachig; deutsch und ungarisch. Das klassische ist rechteckig; beim Einfahren wird der Schriftzug auf weißem Hintergrund rot umrandet, bei der Ausfahrt zeigt es einen schwarzen Rand an.
Schnaps - das deutsche Wort hat sich eingebrannt in die ungarische Seele. Sofern man als Deutscher erkannt wird, fällt nach wenigen Minuten das Zauberwort; im besten Fall wird man dann auf einen Obstler eingeladen.
Öffnungszeiten - Supermärkte haben auch sonntags geöffnet. In beinahe jedem Ort gibt es kleines Lebensmittelgeschäft. Geschäfte des täglichen Bedarfs pflegen häufig noch die Mittagspause. Und anders als in Tschechien oder der Slowakei sind Touristeninformationen in Ungarn eher rar.
Es war einer der Momente, in dem sie wusste, dass sie und ihre Kollegen alles richtig gemacht hatten. "Ich bin noch ganz unter der Wirkung des Abends", schrieb ein Theaterbesucher in einer Email, und ein paar Sätze weiter hieß es: "DANKE."
Katalin Lotz lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und lächelt leicht. Seit 2017 leitet sie die "Deutsche Bühne" in Szekszárd (deutsch: Seksard), dem einzigen deutschsprachigen Theater in Ungarn. Früher stand sie selbst auf der Bühne, ihre Rolle als Intendantin aber lässt ihr dafür heute kaum noch Freiräume - hinzu kommen ihre beiden kleinen Kinder, die Familie, sie muss sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Die "Deutsche Bühne" ist ein Sonderfall. 2016 eröffnet, versteht sich das Haus als Mittler zwischen den Kulturen; Träger ist die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, die von einem "Eckpfeiler der Autonomie" spricht. Die Bewahrung der kulturellen Werte der Ungarndeutschen, die Traditionen spielen dabei eine große Rolle. Auf der Bühne wird ausschließlich deutsch gesprochen, mit Ausnahme der Aufführungen für die Kinder. Verständigungsprobleme gibt es dennoch keine; alle Stücke sind ungarisch untertitelt - oder besser: obertitelt, ein Beamer projiziert den Schriftzug oberhalb der Bühne.
Und auch wenn die deutsche Sprache bei der Arbeit eine wichtige Rolle spielt; viel wichtiger sei, dass die inneren Konflikte und die Konflikte der Figuren gut funktionieren und transportiert werden, sagt Katalin Lotz. Das Repertoire des Hauses ist dabei weit gesteckt: Es gibt Stücke für Kinder - und es gibt Stücke die Erwachsene, mal sind es Liederabende, mal sind es Märchen. Aktuell etwa arbeitet das Haus an einem literarischen Abend mit Werken von Öden von Horvath und seinen ungarischen Zeitgenossen. Und wenigstens alle zwei Jahre widmet man sich einem Werk mit ungarndeutschen Aspekten.
Vergleicht Katalin Lotz die "Deutsche Bühne" mit anderen Minderheitentheatern in Ungarn, fällt ihr die klare Struktur des eigenen Hauses auf; typisch deutsch nennt sie es; deutsche Regisseure allerdings, die zum Arbeiten nach Szekszárd kämen, würden eher das Gegenteil behaupten, es sei so ungarisch. Und wahrscheinlich macht eben diese Lockerheit, die trotzdem eine innere Disziplin in sich trägt, die Qualität aus.
Im März wurde das Stück "Schweres Gepäck" in Budapest uraufgeführt, es geht dabei um die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn nach 1945. Erzählt wird darin die zwar fiktive Geschichte einer Familie, ihr Erleben allerdings beruht auf historischen Quellen und realen Ereignissen; Regisseur Clemens Bechtel hat dafür Forschungsarbeiten und Interviews mit Zeitzeugen zu einem Ganzen komprimiert. "Es zeigt die Qualen, die Konflikte werden spürbar. Es zeigt, wie schwierig es ist, richtig zu handeln, weil niemand weiß, was richtig ist", sagt Karin Lotz. "Das Stück berührt die Seele der Menschen."
Über gerade einmal 80 Plätze verfügt das Haus, aus gerade einmal sechs Schauspielern besteht das Ensemble, insgesamt beschäftigt das Theater 17 Leute, vom Techniker bis zur Verwaltungskraft, gereist wird viel - durchs Land, für Gastspiele nach Deutschland, und wenn Corona auch die Arbeit der "Deutschen Bühne" für beinahe zwei Jahre lähmte, möchte Katalin Lotz am liebsten nicht darüber nachdenken, was eine erneute Stilllegung bedeutet könnte, stattdessen konzentriert sie sich auf die Zukunft.
"Ich plane einfach die Spielzeit für den nächsten Herbst und Winter. Es bringt nichts, wenn ich schwarz sehe, denn dann haben wir keinen Plan."
Das "Wunderland" liegt zwischen Plattenbauten - und mitten drin sitzt Tante Moni auf einer Bank und sagt: "Bring mir bitte ein Taschentuch." Das angesprochene Mädchen schaut sie freundlich an, reagiert aber nicht, so dass Tante Moni ihre Bitte langsam und deutlich wiederholt. "B-r-i-n-g m-i-r b-i-t-t-e- e-i-n T-a-s-c-h-e-n-t-u-c-h." Man kann sehen, wie es in dem Kind arbeitet. Tante Moni zeigt jetzt auf ihre eigen Nase, und dann endlich hat die Vierjährige verstanden, läuft los, um den Wunsch der Kindergärtnerin zu erfüllen.
Tante Moni heißt in der Erwachsenenwelt Monika Krémer - und ist im "Wunderland" für die deutsche Sprache zuständig. 200 Kinder von drei Jahren bis zur Einschulung besuchen die Einrichtung im ungarischen Szekszárd. Vergangenes Jahr feierte das Haus sein 40-jähriges Bestehen, es gehe darum, sagt Monika Krémer, die Sprache und auch die deutschen Traditionen zu vermitteln.
Dass sie selbst zweisprachig aufgewachsen ist, hilft der heute 33-Jährigen bei der Arbeit. Und dass sie selbst den Kindergarten als kleines Mädchen besucht hatte, nennt sie eine witzige Wendung in ihrem Leben; ihre Erzieherin von damals ist heute ihre Kollegin.
Das Haus genießt in Szekszárd einen guten Ruf, für das "Wunderland" spricht das besondere Konzept, sagt Monika Krémer - und so bringen nicht nur Eltern ihre Kinder, die vielleicht zur deutschen Minderheit gehören oder beruflich mit der Sprache zu tun haben. "Sie kommen, weil sie ihren Kindern eine gute Grundlage geben möchten." Zahlen müssen sie für die Betreuung übrigens nichts, der Träger - die deutsche Selbstverwaltung - übernimmt die Kosten.
Das "Wunderland" ist in elf Gruppen unterteilt. Es gibt Kinder, die können von zu Hause aus bereits etwas deutsch sprechen, andere haben noch nie ein deutsches Wort gehört - und die Kunst besteht nun darin, alles miteinander zu verbinden. Je älter die Kinder sind, desto größer ist der Fremdsprachenanteil in den Gruppen. "Das ist ein Apfel." - "Bring mir bitte ein Taschentuch." Manches ist einfach, anderes kompliziert. Und doch: Mehrsprachigkeit lernt sich spielerisch im Kindergartenalter, die Phantasie hilft. Und so wird dank kindlicher Kreativität aus dem deutschen Wort Gurke und dem ungarischen Worte Gurke "Uborka" - Ugorke oder Uborggurke. Egal. Der Wille zählt.
Und auch wenn auf den ersten Blick alles heil und bunt erscheint im "Wunderland" am Plattenbau, die Tagesstätte plagen Nachwuchssorgen. Mit insgesamt acht Kindergärten gibt es zu viele Plätze für zu wenig Kinder in dem 34 000 Einwohner zählenden Szekszárd - und nicht ganz unschuldig daran sind die finanziellen Vergünstigungen des Staates. So können Großeltern seit Januar 2021 Zuschüsse beantragen, wenn sie sich selbst um die Betreuung der Enkel kümmern - die Hilfe wird gerne angenommen.
Fragt man nun Monika Krémer, was das in der Konsequenz für die Zukunft bedeuten könnte, sagt sie diplomatisch: "Zukunft ist immer Zukunft. Man kann planen, aber der Plan ist nur ein Plan."
Heißt wohl: Abwarten. Wunder sind auch im "Wunderland" nicht zu erwarten.