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Warten auf die Zukunft

Welcome to Georgia - sagt die Frau an der Grenzstation. Sie lächelt, reicht den Pass zurück, der weitere Weg Richtung Osten ist frei - nach einer Reise durch die Türkei, die zunächst so anders geplant war. Nix wie durch, Tempo machen, das war zunächst die Devise, aber was wäre das für ein Verlust gewesen?! Großes Land mit großem Herzen - zumindest aus der Perspektive des Reisenden. Und so viel fremder als alles bisher auf dieser Tour Gesehene. Und anders auch, als man die Türkei in Erinnerung  hatte. Weit mehr als 20 Jahre liegt es inzwischen zurück; damals mit dem Freund und Mietwagen an der Mittelmeerküste entlang und mit dem Kurdenkonflikt im Rücken. 

Die Stimmung im Land gilt dabei auch heute als schwierig. Nach Corona und mitten im Russland/Ukraine-Konflikt kämpft sich die Türkei von einer Rekordinflation zur nächsten; aktuell liegt sie bei knapp 79 Prozent (Stand: August 2022), und die Schuld daran wird vor allem Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Zinspolitik zugeschrieben. 

"Die Menschen haben das Vertrauen in ihn verloren", sagt Sari, eine temperamentvolle junge Frau aus Indonesien; seit zwölf Jahren lebt sie Safranbolu, in einem Ort, der berühmt ist für seine Unesco geschützten Altstadthäuser. Übers Internet hatte sie damals ihren Mann kennengelernt. Er arbeitet bei der Gemeindeverwaltung und ist dort verantwortlich für die Vergabe von Bauprojekten (Sari nennt ihn deswegen den "meistgehassten Mann der Stad", weil er unkäuflich sei), sie selbst betreibt eine kleine Familienpension, ihr ganzes Herz aber hängt an Projekten, mit denen sie versucht, die Lage der Frauen in Indonesien zu verbessern; sie gibt Workshops, unterrichtet, vermittelt. Ihr Mann nennt sie eine Feministin. Sie lächelt, wenn sie es erzählt, sie würde gerne viel mehr tun.

Erdoğan kennen die beiden persönlich, er ist ihr Nachbar. Nur ein paar Meter entfernt gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt dessen Sommerhaus; ein gepflegtes Grundstück mit weitem Rasen und mit einer vergleichbar bescheidenen Villa - und früher, so erzählt Sari, vor Erdoğan Präsidentschaft, habe man sich auch mal zu einem Gespräch getroffen. Heute besuche der Politiker allenfalls noch einmal im Jahr das Haus; mit einem Kaffee in der Hand könne man ihn dann am morgens auf dem Balkon sitzen sehen; das Viertel derweil weiträumig abgesperrt, selbst für sie und ihren Mann sei  an Tagen wie diesen das Durchkommen auf der Straße schwierig. Sari sitzt in ihrem Wohnzimmer, an der Wand hängen die Bilder der Hochzeit; ein glückliches Paar; lachend, Hand in Hand; eine Blume steckt in ihrem Haar; ein Moment aus besseren Tagen.

"The women are hidden in their castles"

Wer durch die Türkei fährt, findet sich wieder in einem  Land der Gegensätze. Reiche Städte, verarmte Dörfer, SUVs, Pferdekarren, Villen, Holzhütten, es ist ein sonderbares Sammelsurium, es ist, als könnte sich das Land nicht entscheiden zwischen gestern und heute, und was besonders auffällt: wie wenig Frauen auf den Straßen zu sehen sind, zumeist bestimmen die Männer das Bild; sie sitzen in den Autos, vor den Cafés, junge Männer, alte Männer, und und fragt man Sari, wo all die Frauen geblieben sind, dann sagt sie:  "hidden in their ,Castles'" - "versteckt in ihren Schlössern". Sari sagt, das Land habe sich unter Erdoğan verändert. Er habe sich verändert. 

"Leider haben wir heutzutage einige Probleme", sagt auch Alican aus Istanbul. Wie bei Sari ruhen seine  Hoffnungen auf dem kommenden Jahr, dann sind Wahlen, "dann werden wir es besser haben", ist er überzeugt. Alican stammt aus dem kleinen Ort Yaliköy an der Schwarzmeerküste nahe der bulgarischen Grenze; er ist dort aufgewachsen, seine Mutter lebt noch immer dort, und geht man in seinem Dorf die Wege auf und ab; begegnen einem über all die Bilder von Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938), dem Mann, den die Türken so verehren wie kaum einen anderen. Straßen, Plätze, Einrichtungen sind nach ihm benannt; seine Porträts hängen in den Gärten, Wohnzimmern, Büros, auf der Terrasse von Alicans Mutter, im Fremdenzimmer - und Alcan, darauf angesprochen, erklärt es so:  "Atatürk ist der Gründer der modernen türkischen Republik und bis heute vermissen die Menschen ihn. Man kann die Türkei zwar in so viele verschiedene Glaubensrichtungen aufteilen; Islamisten, Säkulare, Neo-Osmanen - und jede Gruppe hat dabei ihre jeweilige Führungspersönlichkeit, aber alle zusammen haben sie Atatürk."

Ob sich im kommenden Jahr wirklich etwas verändert, wird sich zeigen. Am Wahlergebnis. Und vor allem dem Umgang damit. Die Türkei wartet auf die Zukunft.

Und in Georgien wartet: der nächste Teil der Reise.