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Merhaba

Seit meiner Abreise aus Deutschland trage ich einen 500-Tenge-Schein mit mir. Tenge, das ist die kasachische Währung, umgerechnet sind das etwa 1 Euro. Das Geld ist das Geschenk eines Mannes gewesen, der dem alten Volvo vor dem Start in die große weite Welt in Hannover noch einen neuen Keilriemen verpasste. Die Wahl der Werkstatt war Zufall gewesen. Und genauso war es Zufall, dass der Mann aus Kasachstan stammte. Ich sah es als gutes Omen. Und als ich ihm erzählte, dass ich mit dem Auto in seine alte Heimat reisen möchte, hatte ich eigentlich erwartet, dass er sofort zu schwärmen beginnt. Von der Schönheit des Landes, von den Frauen, dem Essen, von den Dingen eben, von denen die Lieder über die alte Heimat immer so handeln, griechischer Wein und so. Bei ihm war das anders. Er schaute nur kurz auf, sah mich an und fragte: „Warum?“ 

Ja, warum?  

Als ich auf den Spuren der deutschen Siedler im Mittleren Westen der USA unterwegs gewesen war, waren mir  so viele Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien begegnet und viele von ihnen hatten Vorfahren, die sich vom deutschsprachigen Raum zunächst Richtung Osten auf den Weg gemacht hatten, dann begannen die Verfolgungen, die Not wurde größer - und am Ende zog es die Nachfahren der Vorfahren wieder weiter,  diesmal Richtung Westen. 

Bukowinadeutsche, Wolgadeutsche, Donauschwaben, überall im Mittlere Westen kann man sie finden, und ich erinnere mich sehr gut an Oren Windholz aus Kansas, einem stillen bescheidenen Mann, wir hatten damals in seinem Arbeitszimmer gesessen und er erzählte davon, wie es war, die Bukowina, die alte Heimat seiner Vorfahren zu besuchen, die Stimme stockend beim Erzählen, seine Rührung berührte mich. Man kann das alles noch nachhören und nachlesen, hier etwa: threemonths.de/artikel-gestaltet/kansas/ Oder Nona Wiese aus dem kleinen Ort Scribner in Nebraska. Eine Frau mit einem ansteckend herzlichen Lachen. Von ihr habe ich gelernt, wie wichtig die Vergangenheit ist, ohne sie keine Zukunft. threemonths.de/artikel-gestaltet/nebraaska/. Und irgendwie hatte ich auf dieser Reise immer das Gefühl, dorthin eines Tages aufbrechen zu müssen, wo alles begann. Um zu erfahren, was die Menschen damals erfahren hatten, um das Bild vollständig zu machen.

Inzwischen bin ich in der Türkei angekommen, die mir quasi nur bei der Durchreise auf meinem Weg weiter in den Osten hilft; die Route war ursprünglich anders geplant wie vieles anders geplant war, bevor Russland Raketen in die Ukraine schickte. Es gab die Option, in Bulgarien die Fähre übers Schwarze Meer nach Georgien zu nehmen, die Vorstellung allerdings, drei Nächte mit drei betrunkenen LKW-Fahrern verbringen zu dürfen, erschien mir zumindest bisher wenig verlockend, wahrscheinlich buche ich mich für den Rückweg ein, als Einzelbelegung in die Viermannkabine.

Schon in Bulgarien hatten sich die Spuren der deutschen Minderheiten so deutlich verloren wie die Erinnerung an die ersten Tage meines Aufbruchs. Nahezu alle Nachfahren sind dort entweder verstorben oder sie sind nach Deutschland ausgewandert. 

In der Türkei galten die ersten Tage zunächst der Orientierung und Organisation mit einer bis heute zum Verzweifeln schlechten Internetverbindung. Die Zeit verbrachte ich dafür am Schwarzen Meer, das so wenig schwarz ist wie die anderen Meere, aber es ist tief und häufig aufbrausend. 

2200 Meter soll die tiefste Stelle sein, auf dem Grund gibt es so gut wie kein Leben und kein Sauerstoff, was wohl auch der Grund dafür ist, warum Wracks aus ferner Vergangenheit wie konserviert die Zeiten auf dem Meeresboden überstehen. Ursprünglich war das Schwarze Meer ein großer Süßwassersee; die schmelzenden Gletscher der Eiszeit allerdings brachten das Mittelmeer und Marmarameer zum Überlaufen, die Wassermassen bahnten sich ihren Weg - aus dem Schwarzen See wurde ein Meer.

Anders als bisher alle anderen Staaten leistet sich die Türkei an der Grenze bei Losovo nicht nur eine Bretterbude. Wie eine Welle legt sich dort das imposante Gebäude über die Straße, alles wirkte gediegen, reich, organisiert - und das Signal ist eindeutig: Hier will jemand ernstgenommen werden. Und anders als in den anderen Ländern genügte es auch nicht, den Pass zwei Mal vorzuzeigen, vier Kontrollen mussten passiert werden einschließlich Kofferraumcheck - mit dabei übrigens ausgesprochen freundlichem Personal. Und faszinierend auch, wie sich jedes Mal mit den nur wenigen Metern an der Grenze die Welt danach neu präsentiert. Andere Schriften, andere Farben, manchmal andere Buchstaben; aus Kirchen werden Zwiebeltürme, dann Minarette. 

Immer wieder lobt man mich für meinen vermeintlichen Mut; allein, als Frau, der weite Weg... Die Komplimente in der Türkei sind dabei keine anderen als etwa in Slowenien oder in Rumänien. Aber ehrlicherweise verunsichert mich das, auch wenn ich weiß, wie es gemeint ist; ich denke dann, ich ticke falsch, ich mache etwas verkehrt.

Mut bedeutet, ein Risiko einzugehen. Einen ungewissen Ausgang zu wagen. Im schlechtesten Fall ist der Verlust größer als der Gewinn. Als die Menschen damals unterwegs waren, gab es kein Handy, keine Auslandskrankenversicherung, kein Navi, niemand konnte in den nächsten Flieger steigen, weil ihm die Angst womöglich bis zum Hals steht. Sie hatten nur eine Wahl, sie hatten nur einen Weg. Die Donau runter in  einer Nussschachtel. Bis Kasachstan werde ich es wohl nicht schaffen. Aserbaidschan erlaubt aktuell keine Einreise via Land, damit entfällt die Passage übers Kaspische Meer. Und über den Iran zu reisen, mag ich nicht, weil ich das Frauenbild dort nicht mag. 

"Reisen ist tödlich für Vorurteile", sagt Marc Twain.
Vielleicht kommt doch alles anders.