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Zurück auf Los, der Weg anders als gedacht. Und wenn man eben noch glaubte, die Geschichte der deutschen Minderheiten pausiert an der türkischen Grenze, weil man die Türkei eher mit Urlaub und Gastarbeitern in Deutschland verbindet, belehrt das Leben einen wieder einmal neu. Ein Anruf, ein Wundern, Istanbul.

Istanbul Mon Amour

Als es seinen Vater nach Istanbul zog, zählte die Stadt 1,3 Millionen Einwohner, 1955 war das. Und von da an  konnte der quasi zuschauen, wie die Metropole mit jedem weiteren Jahr wuchs. Drei Millionen waren es in den 1980er Jahren. Heute zählt Istanbul im inneren Kern 15 Millionen Einwohner - und rechnet man die Außenbereiche dazu, kommt man auf 23 Millionen, es ist der Wahnsinn. Durch die Straßen pressen sich die Menschen, die Autos; es wabert, es kocht, es lärmt, und mittendrin sitzt Thomas Mühlbauer (oberes Bild) vor einem Kaffee, am liebsten würde er jetzt eine rauchen.

Der Vater also. Österreicher. Blieb nach der Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft auf dem Weg Richtung Persien in Istanbul hängen, gründete in einer Nebenstraße des Istiklal-Boulevards im Stadtbezirk Beyoğlu die türkisch-deutsche Buchhandlung. Und als er via Anzeige für sein Unternehmen eine Angestellte suchte und damit gleich die künftige Ehefrau fand, war das Schicksal besiegelt. Drei Söhne und 30 Jahre später befindet sich das Geschäft noch immer im Familienbesitz, es ist so etwas wie der intellektuelle Treffpunkt, der Seismograph der deutschen Community. Die deutsche Schule befindet sich in der Nähe, auch die österreichische, und wenn man will, isst man beim Blättern in den Büchern Bienenstich oder Käsekuchen. Es gab eine Zeit, da existierten in der Stadt drei deutsche Buchhandlungen, heute sind die Mühlbauers die Platzhirsche, und weil sich das Haus vor allem auf den Verkauf von Schulliteratur konzentriert und sich Deutsch zunehmend neben Englisch als wichtigste Fremdsprache etabliert (früher war es Französisch), sichert man sich so das Überleben.

Thomas Mühlbauer ist in Istanbul geboren, er ist hier zur Schule gegangen, Deutsch ist seine Muttersprache, er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, er hat eine Daueraufenthaltsgenemigung, und wenn sein Herz im Gleichtakt für den türkischen Fußballverein Fenerbahçe und für Mönchenglachbach schlägt, sagt es es eine Menge über seine Zerrissenheit; ein Leben zwischen den Welten, eine Welt zwischen Orient und Okzident und irgendwie auch mitten drin. 

Noch etwa 300 bis 400 sogenannte Bosporus-Deutsche leben in Istanbul; gemeint sind Deutsche in der Türkei, deren Familien seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dauerhaft in Istanbul verwurzelt sind; die Familie von Erald Pauw zählt dazu. Einer seiner Großväter war einer letzten Juweliere des Sultans; der andere kämpfte im 1. Weltkrieg in den Dardanellen - und traf schließlich wie der Vater von Thomas Mühlbauer in Istanbul seine Liebe. Erald Pauw hat ein Buch über die deutschen Spuren am Bosporus herausgegeben; "Daheim in Konstantinopel" heißt es - und es erzählt, wie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dort eine deutschsprachige Kolonie entstand und wie sie nach der Ausweisung aller deutschen und österreichisch-ungarischen Staatsbürger am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 eine tiefe Zäsur erlebte; es sind Lebensgeschichten, Auszüge aus Tagebüchern, wissenschaftliche Beiträge. 

Einen zweiten Einschnitt erlebte die Gemeinde mit der Kriegserklärung der Türkei an Deutschland im August 1944; die meisten Deutschsprachigen wurden damals vertrieben, andere verbannt, es gab drei Internierungslager, sie alle lagen in Anatolien: Kirșehir, Yozgat und Çorum. Auch die Großeltern und die Mutter von Erald Pauw durchlitten die Deportation, abgeschlossen, verstoßen von allen, nach anderthalb Jahren durften sie nach Istanbul zurückkehren. Erald Pauw spricht nicht gern über die Zeit; er sagt,  "das war natürlich schwierig. Aber sie haben überlebt, sind zurückgekommen, haben auch ihre Sachen zurückbekommen und mussten Gott sei Dank nicht nach Deutschland. Das war für sie ein großes Geschenk, denn hier gab es etwas zu essen, und das Leben ging weiter."

Thomas Mühlbauer und Erald Pauw. Zwei Männer in Istanbul, zwei Deutsche in Istanbul. Beide lebten lange im Ausland. Der eine in Nordrhein-Westfalen, den anderen zog es weiter um die Welt; USA, Ferner Osten - zurückgekommen sind sie am Ende beide, die Schwerkraft des Blutes holte sie quasi zurück. Thomas Mühlbauer verbindet mit Istanbul eine Hassliebe, kaum sei er weg, sagt er, vermisse er die Stadt schon wieder. Und Erald Pauw meint: "Heimat ist hier. Heimat ist der Ort, wo ich mich wohlfühle, wo ich manchmal vielleicht allein, aber doch nicht einsam bin. Das Deutsche spielt dabei keine Rolle. Auch in Deutschland spielt es für mich keine Rolle. Da wundere ich mich höchstens - und denke, huch, hier sprechen ja alle Deutsch." 

Bierbrauer und Maurer

Die Geschichte der Deutschsprachigen in Istanbul (früher Konstantinopel, türkisch Dersaadet, ganz früher Byzans), umfasst 200 Jahre. Die ersten Einwanderer - Handwerker wie Bierbrauer oder Maurer - kamen bereits vor den Diplomaten oder Militärs; sie kamen aus dem Habsburgerreich, damals geographischer Nachbar der Osmanen. Die Erschließung der Donauroute zum Schwarzen Meer für die Dampfschifffahrt ab 1830 verbesserte die Verkehrsverbindungen. Eine weitere Gruppe bildeten Kaufleute aus der heutigen Schweiz. Bis zum Ende des ersten Weltkrieges übrigens waren in Istanbul deutsche Kindermädchen lange sehr populär

 Wichtigster Treffpunkt der Deutschsprachigen waren neben der Kirche Vereine, in erster Linie die „Teutonia“, ein 1847 von Handwerkern ins Leben gerufener „geselliger Verein“. 1859/60 zählte er über 300 Mitgliedern. Die "Teutonia" existierte mit Unterbrechungen bis heute; die "Brücke" ist ein anderer Verein der deutschen Minderheit; er wurde 1989 gegründet. Hauptanliegen ist das Erreichen einer doppelten Staatsangehörigkeit und der damit verbundenen Erleichterungen von Formalitäten und Arbeitsbedingungen.

Von den "Bosporus-Deutschen" sind inzwischen viele nach Deutschland abgewandert und bauten sich dort eine neue Existenz auf. An den beiden deutschsprachigen Oberschulen in den 1970/80er Jahren unterrichteten noch etwa 90 deutsche Lehrer, die aus dem Schuldienst für den Einsatz in der Türkei für fünf Jahre freigestellt wurden.  

Auch heute existiert in Istanbul noch eine deutsche Gemeinde; es gibt die Deutsche Schule, das "Alman Lisesi", auch die deutsche evangelische und deutsche katholische Kirche ist in Istanbul vertreten.

Aus Konstantinopel wurde 1930 Istanbul; damals verlor die Stadt seinen Status als Hauptstadt der Türkei; Ankara übernahm den Posten.
 
Mehr zum Buch: "Daheim in Konstantinopel / Memleketimiz Dersaadet", 336 Seiten, ca.125 Abbildungendeutsch/türkisch, ISBN 978-3-9810758-5-4

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