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Der Letzte seiner Art

Die Nachrichten aufs Handy kamen bruchstückhaft. Mal zwei Worte. Mal drei Worte. Mal ein Satz. So ging es eine ganze Weile; es klang wie das S.O.S. eines Überlebenden. Und irgendwie war es das auch. Ein Lebenszeichen aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit. Von einem Mann, der in den Medien als letzter Deutscher in den einsamen Weiten des Ostens Anatoliens beschrieben wird.

Die Informationen über ihn waren widersprüchlich; der letzte Bericht lag beinahe zwei Jahre zurück, es hieß, er sei inzwischen verstorben; August Albuk, Urenkel einer Deutsch-Baltin, die 1878 mit 60 anderen deutschen Familien aus der Region des heutigen Estland in die Türkei vertrieben wurde. Ausgerechnet im Kars (siehe Karte, grüner Punkt) ließen sich die Menschen nieder, dort, wo das Land schutzlos Wind und Wetter ausgeliefert ist; karg, weit, im Sommer dürstend unter der Hitze, im Winter umklammert von bitterer Kälte, über Monate die Erde bewacht von einer dicken Schnee- und Eisschicht.

Auf 2000 Metern Höhe hatten die Siedler den Ort Paulinenhof - (oder Neu Estland, wie es an anderer Stelle hieß)  gegründet (heute: Karacaören) - und später soll es dort ein richtiges Gemeindeleben gegeben haben; mit einer deutschen Schule und einer deutschen Kirche. Heute erinnern daran nur noch Ruinen, man kann das gut aus der Satellitenperspektive mithilfe von Google Earth sehen; Zahnstümpfen gleich sind sie über den Boden verteilt; das Leben dort im Wortsinn von Überleben, Leben in Armut, in bitterer Not.  

Im Laufe der Jahre haben viele Journalisten über August Albuk berichtet; das deutsche Fernsehen hat ihn besucht, das türkische, die Hürriyet, der Tagesspiegel, das Radio, alle waren sie da, und über den Reportagen lag anfangs immer eine gewisse Romantik. Sie handelten vom friedlichen Zusammenleben der Deutschen und ihren türkischen Nachbarn und sie erzählten davon, wie die Kinder früher über Ostern Eier färbten und sie von Haustür zu Haustür brachten. Und sie handelten davon, wie die Deutschen den Käse aus der Region berühmt machten. 

August Albuk lud die Öffentlichkeit immer wieder in sein Haus, stellte die Familie vor, zeigte ihr, wo er seinen Fisch kauft oder seinen Tee trinkt; er nahm die Leser und Zuschauer mit - und während die ersten Berichte noch einen Mann zeigten, der sich jung und lächelnd seiner Zukunft stellt, schien die Zeit nicht nur Spuren in seinem Gesicht zu hinterlassen, auch der Optimismus schmolz wie das Eis auf dem Cildir-See im Frühling. Die meisten Nachbarn inzwischen geflohen vor der Not; die Mutter verstorben, der Bruder - man weiß es nicht, und immer häufiger sprach August Albuk nun davon, nach Deutschland auswandern zu wollen wie viele andere vor ihm.

August Albuk lebt noch immer im Dorf seiner Großeltern. An der Grenze zu Armenien. Hoch oben zwischen Wind, Wetter, Sonne, Eis und Schnee. Und während die Archive der Medien ihn als letzten Deutsch-Balten oder letzten Kars-Deutschen listen, bleibt ihm der Traum von einem Leben in Deutschland von den Behörden verwehrt; er kann seine Abstammung nicht nachweisen, es ist eine Krux, August Albuk ist die eigene Geschichte abhanden gekommen. Es ist, als hätte jedes bisher über ihn geschriebene Wort, jeder Film ein Stück seiner Identität gelöscht. 

"Es ist nicht gut, wenn ein Mensch einen anderen zu seinem eigenen Vorteil benutzt", schrieb er in einer seiner Nachrichten; über einen Kollegen vom Bayerischen Rundfunk war der Kontakt schließlich entstanden. Es war nur eine Andeutung, aber es war klar, was er damit meinte. August Albuk fühlt sich verlassen, versetzt, benutzt. 

Ein Treffen ist am Ende nicht zustande gekommen. Der Preis war uns beiden zu hoch. 

Seine letzte Nachricht lautete: "Saygi bizdenn" - "Du hast unseren Respekt."

Karges, umkämpftes Leben

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lebten in der Region um Kars und Ardahan nahe der armenischen Grenze die Nachfahren deutscher Einwanderer, die sogenannten Balten-Deutschen. Ihre Vorfahren hatten sich Ende des 12. Jahrhunderts im Baltikum angesiedelt, und nachdem Estland im Großen Nordischen Krieg (1700 bis 1721) innerhalb von zehn Jahren unter russischer Herrschaft geriet, zwang man die Menschen nach und nach zur Umsiedlung, um ihren Einfluss auf Bildung, Gesellschaft, Handel und Kultur in der Region zu brechen. Die Politik wurde nach dem Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und dem russischen Zarenreich (1828-1829) fortgesetzt; in dieser Zeit siedelten die Russen einen Teil der aus Estland ausgewanderten Deutschen in der Provinz Kars an. 

Die deutschen Familien  wurden und werden von den Einheimischen als Alamanen bezeichnet. Nach 1965, als Deutschland begann, Arbeitskräfte aus der Türkei anzuwerben, wanderten die meisten von ihnen aus. Der Germanist Florian Hertsch von der Haceteppe Universität in Ankara hat über die Deutschen in der Osttürkei geforscht - seine Ergebnisse sind in der Arbeit "Deutsche im Kaukasus" nachzulesen. 

Die Menschen
in der Umgebung von Kars leben zum größten Teil von der wenig ertragreichen Landwirtschaft, sie sind meist sehr arm. Von ihnen und der Umgebung handelt auch der 2002 erschienene Roman „Schnee“ des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, er sagt: „In Kars können Sie jene Traurigkeit mit Händen greifen, die daher rührt, zugleich ein Teil Europas zu sein und doch ein uneuropäisch karges, umkämpftes Leben zu führen“.