Zahlen. 1921 - Jahr der Geburt. 1942 - Verbannung nach Sibirien. 1947 - Flucht. 1951 - Verhaftung. Urteil: 20 Jahre Gulag. 1955 - Rücküberstellung nach Sibirien. 1972 - Ende der Verbannung, Umzug nach Jaroslawl an die Wolga.
Margot Schmidt sitzt auf dem Schlafsofa ihres Wohnzimmers im russischen Jaroslawl, auf den Knien hält sie das Fotoalbum ihres Vaters; sie sagt, er sei ein Sonnenmensch gewesen, "immer lustig, immer froh." Die Wände im Zimmer tragen seine Bilder. Sie lebt mit ihnen, zwischen ihnen. Das, was sie am ehesten mit ihm verbindet, zeigt eine Seenlandschaft. Links und rechts bewaldete Ufer, in der Mitte eine Insel. Die Insel, sagt sie, symbolisiere ihren Vater, umgeben von zwei Welten, der deutschen und der russischen.
Adam Schmidt. Nachfahre deutscher Auswanderer aus Esslingen. Geboren in Neu Saratowka, einem Vorort von St. Petersburg. Beruf: Künstler, Maler. Das Leben von Adam Schmidt ist exemplarisch für das Leiden so vieler Russlanddeutscher. Zugleich berührt es besonders. Weil so viele Dokumente, so viele Zeichnungen heute noch existieren. Adam Schmidt hat sein Leben mit Hingabe dokumentiert. Man sieht auf seinen Bildern, wie die Familie 1942 auf einem Lastwagen durch meterhohen Schnee über den zugefrorenen Ladogasee der Heimat entrissen wird. Sieht, wie die Reise in einem Viehwaggon weiter Richtung Sibirien geht; 27 Tage sind sie unterwegs, das zwei Monate alte Baby der Schwester überlebt die Strapazen nicht, der kleine Körper wird im Schnee zurückgelassen. Man sieht, wie Adam Schmidt nach der Flucht aus Sibirien bei seiner Frau in Rumänien in der Bukowina in der Tür steht, 1947 ist das. Sieht, wie ihn die Geheimpolizei vier Jahre später verhaftet, den Aufenthaltsort verraten von der eigenen Ehefrau. Man sieht, wie er verzweifelt in Untersuchungshaft sitzt, die Hand stützt den schweren Kopf; man sieht ihn beim Appell im berüchtigten Arbeitslager Workuta, sieht sein Gesicht in jungen Jahren, sieht sein Gesicht langsam altern. Man folgt ihm, leidet mit ihm. Es ist, als höre man seine Stimme, als stehe man all die Jahre an seiner Seite. Seine Tochter sagt, ihr Vater habe die eigene Geschichte stets mit einem Lächeln, mit Humor erzählt." "Всe хорошо, alles ist gut", habe er immer gesagt.
Aber gut war natürlich nichts. Was soll auch gut sein an einem gestohlenen Leben, ein Leben zwischen Qualen und Entbehrungen?
Margot Schmidt richtet sich auf, das Gesicht den Bildern zugewandt. Draußen vorm Fenster goldenes Licht wie es nur der Herbst kennt. Seit ihrer Rente kümmert sie sich um das Erbe ihres Vaters, kümmert sich um die Belange der deutschen Minderheit in Jaroslawl. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, viele sind ausgewandert, viele verstorben. In seinen späteren Jahren hat es Adam Schmidt noch zu einiger Berühmtheit in seiner Heimat gebracht. Er wurde ausgezeichnet für seine Arbeit. Die Zeitungen berichteten, er hat eine kleine Biographie geschrieben. Was er nie getan hat: Seiner Tochter die deutsche Sprache beizubringen, er konnte es nicht, aus Angst vor neuen Repressalien, er wollte sein Kind schützen.
Adam Schmidt starb im Juli 2011 in seinem Atelier. Er hatte an diesem Tag eine Ausstellung eröffnen sollen, entschied stattdessen aber, in die Werkstatt zu gehen, weil es ihm nicht gut ging. Er setzte sich dort auf einen Stuhl - und starb, einfach so, zwischen seinen Bildern. Seine Tochter sagt: "Nach diesem grausamen Leben wurde ihm ein leichter Tod gegeben."
Adam Schmidt wurde 90 Jahre alt.