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Sehnsucht nach Sarepta

Und da steht sie dann mit einer Tüte Äpfel vor der Tür. Sie sagt, sie hätten eine besondere Bedeutung. Nelly Mejder. Geboren 1942 in Kasachstan in der Verbannung. Eine zarte Frau von 80 Jahren mit gütigem Gesicht. Dabei ist ihr Leben selten einfach gewesen. Nicht in der Steppe. Nicht in den Jahren der Rückkehr. Nicht in den Zeiten der Nachperestroika. Und heute? Besser kein Wort darüber verlieren. Über ihrer Bluse trägt sie eine blaue Perlenkette. Die Haare hat sie nach russischer Art zu einem Kranz gebunden. Sie sagt zur Begrüßung: „Ich freue mich so. Ich liebe die deutsche Sprache.“ 

Ihre Vorfahren hatten zu den ersten Deutschen gehört, die sich hier in Sarepta an der Wolga niedergelassen hatten. Betrieben eine Wirtschaft. Hielten Kühe und Pferde. Auf den Feldern wuchsen Melonen. Es war der 2. September 1941, der mit einem Schlag ihr Leben veränderte. Der Großmutter sackten die Knie weg, als sie die Nachricht von der Deportation erreichte. Es war kalt, es regnete an diesem Tag; es war, als wollte der Regen ihre Tränen vom Gesicht waschen. 

Mit dem Lastkahn verschiffte man die Familie die Wolga entlang, von dort über das Kaspische Meer, dann weiter, immer weiter. Die Mutter damals schwanger. Der Vater zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt. 350 Gramm Brot blieben als tägliche Ration zum Leben; Leben in einer Erdhütte. Nelly hat über die Zeit einige Büchlein geschrieben. Ihre Erinnerung ist wach. Nur ihr Deutsch, es verliert sich immer mehr, wird immer mehr Vergangenheit. Sie lächelt, wie sie meist lächelt. Sie nimmt meine Hand, sie sagt; "lass uns singen." 

Als Kind träumte Nelly von Sarepta, der Heimat ihrer Eltern. Sie sah das Haus, den Garten. In ihrer Vorstellung war es wunderschön. Die Apfelbäume blühten. Mit ihrem Bruder spielte sie barfuss Fangen. Und als der Vater und die Mutter 1953 bei einem ersten Versuch der Rückkehr von Sarepta einen Sack Äpfel mitbrachten, "war es für uns Kinder ein märchenhaftes Geschenk". 

Nelly hat zwei Kinder großgezogen. Früher arbeitete sie als Sekretärin beim Komsomol. Sie hat die blauen Augen ihres Vaters geerbt. An die Zeit in Kasachstan erinnert sie sich nur an ein Gefühl der Schwere. Jeden Monat Meldung bei der Sonderkommendatur. Jeden Monat neue Demütigung.  

Neben der Schule lag der Schulgarten. Er wurde ihre Schwäche. Wenn sie dort mit den Knien auf der Erde saß, stellte sie sich vor, es wäre Sarepta. Dann endete die Verbannung. Das war im  Frühjahr - 1957. Zwei Jahre später starb der Vater.

 

 

 

Auf einen Blick

Sarepta ist eine ehemalige deutsche Siedlung. An sie erinnert heute das Freilichtmuseum Alt-Sarepta in Wolgograd, ein Stück altes Europa mitten in Russland.

Der Museumskomplex
besteht aus ingsesamt 27 Gebäuden. Das Leben dort erstarb mit der Deportation der Russlanddeutschen. Ihnen war es nach Verbannung nicht erlaubt, in ihre Häuser zurückzukehren. Dass die Gebäude zum Teil noch erhalten sind, grenzt an ein Wunder. Die Kirche gilt das älteste Gebäude Wolgograds.