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„Das Leben kennt keinen Konjunktiv”

Als der Bescheid dann endlich kam, wurde sie von großer Müdigkeit übermannt. Es war, als fiele alles in ihr zusammen. Monatelang hatte sie diesen Moment herbeigesehnt, hatte darauf hingearbeitet. Hatte Anträge ausgefüllt, Dokumente beglaubigen lassen, hatte Stunden um Stunden nachts am Computer verbracht, weil die Termine für die Visastelle in der deutschen Botschaft nur nachts vergeben werden. Und als sie im Mai dann endlich die Nachricht erreichte, dass Deutschland ihre Aufenthaltsgenehmigung bewilligt hat, war nicht einmal mehr Platz für Freude. 



Uliana sitzt vor einer Tasse Tee in der kleinen Küche ihrer Mutter im russischen Kamyschin, sie rührt sie nicht an. Zu vieles geht ihr durch den Kopf, zu vieles will sortiert werden. Es sind schwierige Zeiten, wieder einmal, eigentlich waren sie es immer. Seit Russlands "Sonderoperation" in der Ukraine aber ist alles noch einmal viel komplizierter geworden. Seither sieht sie in ihrem Land für sich und ihre Familie keine Zukunft mehr. Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, dass ich auf den letzten Zug aufgesprungen bin."

Uliana ist wie ihre ältere Schwester in Kasachstan geboren. 
Ihre Familiengeschichte ähnelt dabei denen vieler Russlanddeutscher. Die Goßmutter als Nachfahrin schwäbischer Siedler mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion umgesiedelt, der Großvater zur Zwangsarbeit verpflichtet; Usbekistan, Altai, später Kasachstan; dann Rückkehr an die Wolga - und jetzt noch einmal der ganz große Loop zurück, dorthin, wo vor vier Generationen der Aufbruch begann. Zurück in die alte alte Heimat. Es ist, als wären die Russlanddeutschen zum ewigen Neubeginn verdammt. Wieder Aufbau. Wieder fremd. Wieder. Wieder.

Hätte es vielleicht anders laufen können?  „Das Leben kennt keinen Konjunktiv“, sagt Uliana. Sie hat ihre Erfahrungen gemacht.

Uliana ist 48 Jahre alt. Am 2. Dezember wird sie mit ihren beiden Mädchen Agata und Warja und ihrer Mutter Ludmilla Russland verlassen, wahrscheinlich für immer. Vom Vater der beiden Töchter lebt sie getrennt. 

Die Flugtickets sind gekauft. One way ticket. Der Weg wird die kleine Familie von Moskau via Belgrad und von dort nach Frankfurt bringen. Dann 14 Tage Quarantäne. Dann Aufnahmelager. Der Rest? Ungewiss. Es gehört viel Mut dazu, alles hinter sich zu lassen. Nicht zu wissen, was kommt. Nicht zu wissen, was die richtige Entscheidung ist. Monate der Zerrissenheit. Pro Person werden sie nur einen Koffer mitnehmen können. Was bleibt? Was nimmt man mit? Die Papiere. Ein paar Unterhosen. "Vielleicht ein Kleid", sagt Uliana. "ja, vielleicht ein Kleid."

Mit Anfang 50 sollte das Leben im besten Fall seine Richtung gefunden haben. Man kümmert sich vielleicht um die ersten Enkel. Man holt die Ernte ein. Ist angekommen.

Uliana steht vor einem neuen Abzweig. Es wird ein langer Weg.

Auszug

Für die einen sind sie nur "die Russen", die auf Kosten der Deutschen in Deutschland leben wollen: russlanddeutsche Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Noch immer weiß nicht jeder etwas über das Schicksal der Menschen, die vor über 200 Jahren auszogen waren, um ihr Glück zu finden, dem Ruf von Katharina der Zweiten folgend; sie hatte den Menschen Land, Steuerfreiheit, Selbstverwaltung und weitere Privilegien versprochen.

1924 gründete sich die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, im August 1941 wurde sie wieder aufgelöst. Etwa 450 000 Wolgadeutsche wurden mit dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion nach Kasachstan und Westsibirien deportiert.

Nach sowjetischen Angaben lebten 1959 von den 1,62 Mio. Russlanddeutschen 90 Prozent im asiatischen und zehn Prozent im europäischen Teil der UdSSR. Ende der 1970er Jahre wiesen die offiziellen Statistiken der UdSSR etwa zwei Millionen Russlanddeutsche aus. Mit Beginn der verstärkten Auswanderung nach Deutschland Ende der 1980er Jahre verringerte sich diese Zahlen erheblich.

Nach Angaben der Moskauer Deutschen Zeitung (Quelle Bundesverwaltungsamt, bva) sind in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 - 2273 Personen aus der Russischen Föderation als Spätaussiedler oder deren Familienangehörige nach Deutschland emigriert. Russlands Teilmobilisierung gab dem Ganzen zusätzlich eine eigene Dynamik.