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Kurzes Update für die, die weder Facebook noch Instagram nutzen; dort sind in den letzten Tagen kurze Zwischenstände erschienen.

Reinkommen war schwierig genug. Aber wie wieder raus? Mein Visum läuft ab. Bis Dienstag muss ich Russland verlassen haben und ich bin noch nicht einmal ansatzweise in Nähe der Grenze. Es ist ein zähes Vorangekommen. Einerseits, weil die Recherchen Zeit benötigen. Andererseits, weil es nicht eben einfach ist, sich durchs Land zu schlagen. In Russland ist alles groß, weit, breit. Die Denkmäler, die Städte, die Straßen -  und das, was man in seiner Vorstellung mit Russland verbindet, nämlich ein Leben in romantischen Dörfern wie bei den Märchen mit Baba Jaga, das muss man suchen. Anderenfalls bewegt man sich tatsächlich über sehr gut ausgebaute und dabei aber ziemlich weitgehend öde Trassen durchs Land und teilt sich derweil die Strecke mit Hunderten von Lastwagen. Wer es anders will, fährt Umwege, fährt über Schlamm- und Schlaglochpisten - und ja, die Stoßdämpfer am alten Volvo sind gut, noch. Die Teilmobilmachung wiederum hat zu einem Problem geführt, das bei meiner Ankunft nicht absehbar war. Um Staus an Grenzen zu vermeiden, ist nun der Plan, über Estland auszureisen, weil Estland seit dem 19. September so gut wie keine Russen mehr einreisen lässt. Von dort dann über Lettland und Litauen zunächst bis nach Polen. 21 500 gefahrene Kilometer zeigt der Tacho bisher an, im Herzen bin ich Trucker, Wahnsinn. Wie einiges hier. In diesem Sinn.

Große Leere nach dem Gespräch am Abend angesichts der Prognosen zum Ukrainekonflikt und der Stimmung hier im Land. Das klingt alles nicht gut - und vielleicht ist es jetzt wirklich an der Zeit, Russland hinter sich zu lassen. Zumindest wird hinter der Grenze vieles wieder einfacher sein. Kein endloser Papierkram beim Einchecken ins Hotel, Kredit- und eigene Simkarte funktionieren wieder, Surfen ohne VPN - und das beklemmende Gefühl, es wird sich hoffentlich auch wieder legen. In Tiflis gab es in Geschäften Schilder mit Hinweisen: “Wir bedienen keine Russen”. In Russland sollen sie in der vergangenen Nacht den einen oder anderen VW abgefackelt haben. Die Pastorin aus Toljatti nennt Selenskyi einen Clown. Der junge Student aus Jaroslawl würde gern ausreisen; er weiß nur nicht, wie. Es heißt, sie könnten die Grenzen schließen. Es heißt, sie würden den Kriegszustand ausrufen. Selbst das Äußerste scheint inzwischen möglich. Die stille Mehrheit stützt den Kurs der Regierung oder nimmt ihn zumindest hin. Still. Alles sehr sehr still hier. Alle gehen in die Pilze.

Auf die letzten Meter wird es noch einmal sportlich. Komplett lost nach Komplettversagen der Navigationsapps. Statt weiter Richtung Grenze, führt der Weg stundenlang über dirty Routes durch die Pampa. Wenn Russland seine Panzer über solche Pisten in die Ukraine schickt, muss man sich über nichts wundern; das sind keine Schlaglöcher, das ist Sabotage. Die mitgeführte Straßenkarte hilft bei der Orientierung nur bedingt, weil einerseits die Straßen nicht ausgezeichnet sind; weder auf Papier noch am Weg, andererseits ist der Maßstab viel zu schlecht, als dass man sich daran irgendwie orientieren könnte. Aber man hat einen Mund zum Fragen, und man kriegt es einfach nicht zusammen, diese Hilfsbereitschaft, Offenheit und Freundlichkeit der Menschen hier (egal, wo man hinkommt - ähnlich war es in der Türkei) und die politische Entwicklung. Der Kollege in Moskau erzählt, dass er das Thema Ukraine mit Freunden inzwischen ausspart, weil er verbal gegen eine Wand läuft. Nikita, der Student, sagt, dass er in den vergangenen Monaten wegen der unterschiedlichen Auffassungen viele Freunde verloren habe. Uliana, die Russlanddeutsche mit dem One-way Ticket Richtung Deutschland, nennen sie auf der Arbeit eine Vaterlandsverräterin; sie sagt, es sei nicht einfach. Man selbst geht nach politischen Diskussionen mit Kopfschmerzen ins Bett - oder klammert das Thema ebenfalls gleich aus, weil man ratlos vor all dem steht und nicht weiß, wie damit umgehen. Nationalismus war noch nie eine gute Idee. Grundsätzlich. Zurück bleibt diese innere Zerrissenheit, die einen den ganzen Weg hier schon begleitet. Dazu passt, dass das nächste Hotel eine Buchung killt mit der Begründung: keine ausländischen Staatsbürger ("Добрый день мы не можем вас принять так как не регистрируем иностранных граждан"). Und dazu passt, dass einem eine russische Bekannte aus der Patsche hilft.

War natürlich eine bescheuerte Idee. Fotos zu machen an der Grenze. In Russland. Zu diesen Zeiten. Die Stimmung war dann erst einmal hin. Auf beiden Seiten. Keine Ahnung, was mich geritten hat, man ist ja nicht immer die Hellste. Zum Dank haben sie dann den Volvo komplett zerlegt und das Handy kassiert, wenigstens vorübergehend. Und es klang ja auch nach einer ziemlich billigen Ausrede, nicht gewusst zu haben, dass das Filmen und Fotografieren von militärischen Anlagen verboten ist; dabei verstehen die Deutschen da auch keinen Spaß. Gemessen daran und angesichts der aktuell politischen Situation waren die Konsequenzen noch milde: Fotos gelöscht und sehr sehr viel Zeit verloren. Am Ende bedankten sich die russischen Grenzer - und wünschten wie schon bei der Einreise: „Good Luck“, das kann man, das können alle gebrauchen, vor allem auch sie. Zurück lässt man ein gespaltenes Russland. Student Nikita aus Jaroslawl wartet noch immer auf die Genehmigung der militärischen Behörde, das Land für sein Auslandssemester wieder Richtung Berlin verlassen zu dürfen. Englischlehrerin Tatjana aus Pskov vertraut lieber auf Gott als auf die Regierung, sie glaubt, es werde glücken. Valerie aus Maisky im Nordkaukasus träumt davon, morgens aufzuwachen und in den Nachrichten zu hören, "dass überall auf der Welt die Menschen glücklich sind", wie er schreibt. Man ist in die EU tatsächlich mit einem wirklich warmen Gefühl zurückgekehrt. Alles so vertraut, so sortiert, so - sicher (?). Man spricht wieder englisch. Man zahlt in Euro. In Russland blockierte bereits ein Checkpoint zehn Kilometer vorm eigentlichen Übergang die Straße. Man schaute in die jungen Gesichter dort, fragte und fragt sich, wie es hatte alles so weit kommen können. "Politik ist eine Hure", sagte Dara Mayer damals in Vukovar in Kroatien. Man möchte jedes Wort davon unterschreiben. Und im Auto singt Kris Kristofferson: "So many questions. So many answers. So many reasons. Most of them are wrong."