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Einwurf II

Kurzes Update für die, die weder Facebook noch Instagram nutzen; dort sind in den letzten Tagen kurze Zwischenstände erschienen. 

Vielleicht sind die Städte von der Wolga aus schöner. Der Weg durch sie hindurch jedoch ist aktuell eine Herausforderung, auch wenn ich normalerweise die Architektur der 1960/70er mag. Nicht ganz so die 80er - und das ist womöglich das Problem. Aber gut, nach Georgien fährt man auch nicht unbedingt wegen der Städte, und hier trösten mich die vielen warmherzigen Begegnungen über die Betonsiedlungen und Eintönigkeit hinweg. Und die Erfahrung sagt auch, dass man sich am Ende in alles hineinguckt. Das war anfangs in Rumänien so, das war in Bulgarien so, und es gibt Gründe, warum die Orte einen Charme ausstrahlen, der gut zu den Temperaturen von inzwischen 11 Grad passt. Krieg, Deportation, Neubesiedlung, Konzepte vom Reißbrett. Die Stimmung derweil? So so, würde man in Georgien sagen. Ich treffe Leute, die wütend und enttäuscht sind über die Entwicklungen. Andere haben Angst. Die nächsten nehmen den Kurs mit Vertrauen und Verständnis hin. 144 Millionen Menschen. Das Land ist groß; sehr sehr groß. Platz für viele Meinungen, viele Gefühle. Trotz anfänglicher Bauchschmerzen: Es ist gut, hier zu sein, gerade jetzt. Russland, erzähl uns etwas über deine Seele.

Igor habe ich auf meinem Weg von Balakowo nach Samara kennengelernt. Er ist einer von vielen Russen, die sich ihr Einkommen mit dem Straßenverkauf aufbessern. Etliche Menschen hier, zumeist allerdings sind es Frauen, haben zwei Jobs. Die durchschnittliche Miete für eine Zweizimmerwohnung liegt bei 300 Euro, der Durchschnittsverdienst bei 500 Euro (abhängig von Region und Branche), jeder kann sich ausrechnen, was das bedeutet; Männer verdienen zumeist etwas besser. Igor saß auf einem kleinen Hocker vor seinem Lada. Unter der Decke bewahrte er auf einem Blech hausgemachte Piroggen auf, sie waren noch warm, als er sie mir in die Hand legte. Als ich ihm sagte, dass ich aus Deutschland komme, verwandelte sich sein Gesicht in ein breites Lächeln - und er erzählte, dass er in der DDR in Lutherstadt Wittenburg stationiert war. Es muss eine gute Zeit gewesen sein. Jedenfalls griff er noch einmal vorsichtig in seinen Kofferraum und reichte mir zusätzlich zu den Piroggen ein Plastikschälchen mit zwei gefüllten Teigtaschen herüber. "Präsent", sagte er. Beschämt und berührt fuhr ich ab.Auch das ist Russland.

Mit dem Wetter ist es wie mit den Schlagzeilen: Es kennt gefühlt nur noch Extreme. Von eben 39 Grad runter auf neun. Eine Bekannte aus Samara erzählte, wie sie am vergangenen Wochenende in Jekaterinburg am Ural in den Schneesturm geraten war. Sie sagt, ich solle mich besser beeilen mit meinem Weg. Alle sorgen sich. Dabei geht es mir gut. Die Menschen hier behandeln mich freundlich, ich werde warmherzig aufgenommen, man stellt mir ein Bett, man hilft mir bei den Recherchen, ich befinde mich in keiner Gefahr, aber gut, ich habe auch nichts auszustehen, bin in meinem Leben weitgehend frei in meinen Entscheidungen. Bevor ich nach Russland aufgebrochen war, hatte es Kritik an meinem Vorhaben gegeben - und ich kam in Zweifel. Es sei moralisch verwerflich, jetzt zu fahren, hieß es. Ich konsultierte dann Freunde und Familie - und das Interessante daran war, wie dazu die Meinungen im Osten und Westen zum Teil auseinandergingen. Einmal Ossi, immer Ossi, sagte eine Freundin, wenngleich nicht auf das Thema bezogen. Und da ist wohl auch etwas dran, das meinen die hier auch. Wenn ich ihnen erzähle, dass ich in der DDR aufgewachsen bin, dann heißt es: das spürt man. Und vielleicht gibt es da ja tatsächlich so etwas wie eine alte Verbundenheit. Zumindest kann ich die Schrift einigermaßen lesen; die Architektur, die Mentalität, die Farben sind mir nicht fremd, es ist, als bewege ich mich in meiner eigenen Vergangenheit. Ich habe in den vergangenen Wochen und Monaten viel darüber geschrieben, wie die Deutschen für die Verbrechen der Nazis in Kollektivhaftung genommen wurden. Leid hat neues Leid geboren. Man kann die Spuren überall sehen, gerade hier. Ich hätte wenig aus der Geschichte, aus meiner eigenen Arbeit gelernt, wäre ich jetzt nicht nach Russland gereist.