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Abschied für immer

Für uns - für meine Schwester und mich - war sie nur "Omi unten". Unten, weil sie im Parterre eines vierstöckigen Hauses in Rathenow lebte, einer kleinen Stadt im Westen Brandenburgs. In der obersten Etage wohnte "Omi oben" mit "Opa oben", die Eltern unserer Mutti. Und unten eben die Mutti des Vatis, versteht man das? Unten gab es Orangenkuchen und Kekse im Bett, oben Kartoffelsuppe, dazu Eierkuchen. Unten war verspielte Unbekümmertheit, oben etwas mehr Strenge.

Warum ich das erzähle? Weil die Geschichte meiner "Omi unten" Teil der deutschen Geschichte ist. Und weil sie sich einfügt in all die anderen Porträts der vergangenen Wochen. Ihre Geschichte ist zugleich so etwas wie der Abschluss dieser Reise, die vor sieben Monaten in der Tschechischen Republik begann und an der polnischen Grenze nun endet. 

"Omi unten" befand sich damals in den letzten Kriegstagen im Treck derer, die auf dem Weg Richtung Westen waren. Einen Koffer in der Hand und - in den Armen ein Baby, mein Vater. Christel, so ihr Name, war 1917 in Szczecin geboren worden, das damals noch Stettin hieß und zu Pommern gehörte. Sie war die Tochter eines Versicherungsvertreters und einer Hausfrau, die für die feinen Leute Wäsche wusch. Christel selbst machte eine Ausbildung zur Verkäuferin. Meinen Opa lernte sie mit 17 Jahren kennen; sie heirateten 1939, wenige Tage vor seiner Einberufung an die Front. 

Dass ich nicht weiß, was sie dachte, was sie fühlte in diesen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren der Flucht, sagt eine Menge über meine Omi. Nie ein Wort der Klage, kein Nachsinnen über das Gewesene. Dabei wäre es gut gewesen, die Schmerzen zu benennen, dann hätte man vielleicht mal nachgefragt und würde jetzt nicht mit leerem Kopf dastehen. Reue kommt immer zu spät.

Und so bin ich eben jetzt erst nach Szczecin gefahren, um zu sehen, woher ein Teil meiner Familie stammt. Das Viertel, in dem meine Oma lebte, gehört zu den schöneren der Stadt. Mit Cafés, kleinen Geschäften; eine Bäckerei verkauft Brot nach georgischem Rezept; Häuser aus der Gründerzeit flankieren die Straßen, sie haben den Krieg irgendwie schadlos überstanden.

Die Balkone in ihrem Haus im Parterre sind verwaist, und ich stelle mir vor, wie sie damals genau dort hinter den Fenstern saß, wartend auf ihren Liebsten. Und ich frage mich, wie der Moment wohl gewesen ist, als sie die Haustür zum letzten Mal hinter sich schloss, Hals über Kopf, Abschied für immer.

Der Krieg der Deutschen; er hat Millionen Menschenleben ausgelöscht, Heimaten zerstört, kranker Größenwahn, mit nichts zu entschuldigen. Die Folgen trugen am Ende alle.

Fünf Jahre irrte "Omi unten" heimatlos durchs Land, kam zunächst bei der Schwester in Brandenburg unter, fand dann Unterschlupf bei einem Bauern, bis sie - inzwischen zweifache Mutter -, in Rathenow eine Wohnung zugewiesen bekam. Ihre Ehe zerbrach an den Schwierigkeiten der Zeit, den Opa zur Oma lernte ich nie kennen, er setzte seinem Leben selbst ein Ende. Und was für eine Ironie. Dem Krieg entkommen. Und dann doch den Tod gewählt.

Masuren. Ostpreußen. Westpreußen. Pommern. Schlesien. Alles ferne Vergangenheit. Und in der eigenen Wahrnehmung  kriegt man es noch immer nicht wirklich zusammen, dass hier tatsächlich beinahe die gesamte Bevölkerung ausgetauscht wurde. Polen gegen Deutsche, die Polen ihrerseits aus der (heutigen) Ukraine vertrieben, eine Ausweisung folgte der anderen, und es war ja nicht das erste Mal; und wie das wohl ist, in das hinterlassene Haus des anderen zu ziehen, hinter dem Schrank der vom Kind versteckte Teddy, die Bücher in fremder Sprache, die Kommoden voller Lebenserinnerungen; mehr als Handgepäck nahmen ja die wenigsten mit.

Es dauerte 52 Jahre, bis "Omi unten" ihre alte Heimatstadt wieder sah, da war sie 80 Jahre alt, nervös wie ein junges Mädchen. Ein Taxifahrer, der sich gut auskannte mit den alten Straßennamen, fuhr sie zur Herz-Jesu-Kirche, in der sie einst konfirmiert wurde, fuhr sie zum Wohnhaus der Eltern in die Jagiellónska, und wieder stand sie an den Hakenterrassen wie damals, im Jahr ihrer Trauung; ein Mann, eine Frau, still lächelnd, nicht ahnend die düstere Zukunft. Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt Polen bereits überfallen. Das Böse nahm seinen Lauf.

"Aber wir missen doch zurück, Siechmund. Wir missen, weil alles auf uns wartet, die Bäume und die Seen, und der Schlossberg und die Felder und der alte Fluss, der die Flöße trägt. Nein, Simon, sage ich, wir werden nicht mehr erwartet in Lucknow; die anderen, die uns hätten erwarten können - es gibt sie nicht mehr. Kein Laut, der dich erinnert, kein Gesicht, das aufglänzt bei deinem Anblick, keine Hand, die unentrinnbare Beziehungen erneuert, weil die anderen fort sind, verschollen und versunken, darum wird es den Augenblick nicht geben, auf den du hoffst."

(aus "Heimatmuseum", Siegfried Lenz)

Stille Schmerzen

Diejenigen, die konnten oder die, die ahnten, dass Schlimmes auf sie zukommen würde, waren bereits 1944/Anfang 1945 aus den ehemaligen Ostgebieten und dem Sudetenland Richtung Westen vor der Roten Armee geflüchtet. Nach dem verlorenen Krieg kamen dann Mitte Juli 1945 in Potsdam die großen Siegermächte zusammen; einer der heikelsten Punkte dabei: das Schicksal der Deutschen in den Ostregionen.

Insgesamt an die 14 Millionen Deutsche und Deutschstämmige verloren ihre Heimat. Hunderttausende überstanden die Strapazen nicht; sie verhungerten, erfroren, starben an Seuchen. Hinzu kam: Die eigenen Landsleute hatten wenig übrig für die Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge; selbst die alliierten Besatzer wunderten sich über das Ausmaß der Feindseligkeiten und Ausgrenzungen. "Die drei großen Übel der Zeit", so hieß es damals, "seien die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge."

Die Vertriebenen selbst haben ihre Schmerzen selten formuliert; aus Scham, aus Angst - und wie auch in der DDR wurden im Westen allenfalls die Gründe für die Flucht und die Vertreibungen benannt, kaum ein Wort über die Exekutionen, Massenvergewaltigungen. Die zum Teil unglückliche Rolle des Bundes der Vertriebenen in der Vergangenheit und deren schrillen Forderungen nach Wiedergutmachung sowie das Ausblenden, dass dem Leid der Vertriebenen Millionen Tote infolge der Nazi-Herrschaft vorausgegangen waren, machte die Positionen nicht eben besser - sowie die Tatsache, dass etwa 200 der ersten Verbandsfunktionäre der NSDAP angehört hatten. 

Anders als in Polen, wo die Vergangenheit verlorener Gebiete als Bestandteil der eigenen Geschichte begriffen wird, fällt den Deutschen der Umgang damit bis heute schwer.