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Altes Land

Und da steht man also am Ufer der Memel und staunt. Darüber, dass der Fluss einfach nur ein Fluss ist. Und wie weit im Osten er sich befindet. So weit weg von Deutschland. Und natürlich kennt man die Zeile aus dem Deutschlandlied, wie sie beinahe jeder kennt, obwohl man sie schon lange nicht mehr singt. "Von der Maas bis an die Memel. Von der Etsch bis an den Belt". Aber damit hat sich das mit dem Wissen auch fast; was weiß man schon als Nachkriegsgeborene über Ostpreußen und das Memelland? Wollte nichts wissen. Durfte nichts wissen. Alte Kamellen. Und wenn die Alten doch einmal darüber sprachen, waren es Erinnerungen der Ewiggestrigen. Und noch immer sind die Irritationen groß; wie damit umgehen, zerrissen zwischen dem Leid, zerrieben zwischen der Geschichte, die nur Verlierer kennt. Wer hier durch den Norden Europas reist, kann sich kaum wehren gegen die Beklemmung; die Vergangenheit so präsent, als wäre sie das Jetzt und ist zugleich doch weite Ferne.

"Geschichte muss verstanden werden", sagt Silva Pocyté. Die Historikerin sitzt in ihrem Büro an der Universität Klaipeda. Früher diente das neugotische Gebäude als Kaserne, sechs Häuser umfasste der gesamte Komplex bei seiner Erbauung 1907. Erst nutzten die Deutschen das Areal für ihre Militärs, dann die Franzosen, dann die Litauer, dann wieder die Deutschen, dann die Sowjets; und während das Haupthaus das Kommen und Gehen der Systeme weitgehend schadlos überstand, zerlegte es im letzten Krieg ausgerechnet die Toiletten. 

Silva Pocyté ist Memelländerin- und das Memelland ist Teil ihrer Forschung. Eines ihrer Projekte beschäftigt sich mit der Zuwanderung und Abwanderung in der Zeit von 1944 bis 1960. Das Memelland oder das Memelgebiet, das muss man dazu wissen, war über 500 Jahre eng verbunden mit der deutschen und preussischen Geschichte. Nur nach dem 1. Weltkrieg war es von Deutschland abgetrennt, als es von 1923 bis 1939 als autonomes Territorium Litauen zugeschlagen wurde - und nach 1945 schließlich der Sowjetunion (mehr dazu im Beistück). Litauisch übrigens war unter den Nationalsozialisten verboten, anders als in der Zeit unter der Annektion Litauens, in der das Memelland zweisprachig war; nämlich deutsch und litauisch.

Auch die  Eltern von
 Silva Pocyté sind Memelländer. Die Mutter stammt aus Agluonenai, einem kleinen Dorf 25 Kilometer entfernt von Klaipeda. Vater Hans ist direkt in Klaipeda geboren. Er war elf Jahre alt, als seine Familie vor dem Einmarsch der Roten Armee flüchtete. Erst zu Fuß zum kurischen Haff, von dort weiter mit dem Boot, dann weiter mit dem Zug zunächst nach Königsberg; bis nach Grünlichtenberg in Sachsen trug sie der Weg. Wohnten, wie man so wohnte in dieser Zeit. Wurden als Polen oder Polacken beschimpft. Im Frühjahr 1946 trieb das Heimweh die Familie mit von Sehnsucht zerrissener Seele ins Memelland zurück. Das Ankommen dann aber anders als erwartet; das eigene Gehöft von Bomben zerstört, kein Platz zum Leben, kein Platz zum Arbeiten.

Es gibt ein Foto aus der Zeit der Flucht in Sachsen. Hans mit seinen Geschwistern Hildegard und Erhard, drei Kinder, die sich an den Händen halten, in der Mitte die kleine Schwester. Sie lachen. "Wieso lachen sie?"
"Es sind Kinder; kein Problem", sagt Silva Pocyté.

Sie sitzt auf einer kleinen Couch neben ihrem Schreibtisch. An der Wand hinter ihr hängen die Auszeichnungen ihrer Arbeit. Sie ist 53 Jahre alt und wirkt wie eine junge Frau; eine Klassenbeste umgeben von ihren Urkunden.

Das Memelland hat sie geprägt, sagt sie. „Memelländer/in zu sein, das heißt: du bist anders." Sie meint damit: sie ist konformiert. Sie geht in die Kirche. Sie spricht deutsch.

Und noch einmal erzählt sie vom Vater. Wie der auf sein Schulheft wie alle anderen Kinder seinen Namen  notieren musste - "Hans Pocys" - und wie der Lehrer dessen Vornamen durchstrich und durch die litauische Version - "Stasys Pocys" - ersetzte. Als der Junge nach Hause kam, sagte der Vater, das geht so nicht, setzte ebenfalls den Stift an und notierte wieder die deutsche Variante. Eine Woche ging das so hin und her; am Ende kapitulierte der Lehrer, meinte "naja" - und Hans blieb Hans.

Es hätte auch anders ausgehen können. Die Familie hatte Glück. Und Glück, großes Glück hatte sie auch in anderer Hinsicht; anders als andere Memelländer starb niemand aus der Verwandtschaft bei der Flucht und es wurde auch niemand nach Sibirien deportiert. Silva Pocyté sagt: „Ich kann mir das auch nicht erklären."

Nach 1945 war das Memelland quasi leer. Die meisten Menschen waren Richtung Westen geflüchtet. 1939 zählte Klaipeda 50 000 Einwohner, beim Einmarsch der sowjetischen Soldaten am 28. Januar 1945 waren nicht mehr als 30 Menschen in der Stadt. Alle waren sie weg. Und im Umland sah es nicht eben anders aus.

Für ihre Studien hat Silva Pocyté zusammen mit einer Soziologin 100 Interviews mit Neusiedlern und Kindern von Neusiedlern geführt, also Menschen, die sich nach 1945 in Klaipeda und dem Rest des Memellandes niedergelassen hatten; Russen, Litauer und Memelländer, die Erinnerungen an die Zeit nach dem Krieg unterteilten sie in Farben: Weiß stand dabei für die schönsten Erinnerungen - und die gab es vor allem auf russischer Seite, der Tenor in etwa:  „Wir kamen hierher und haben Klaipeda neu aufgebaut, unser schönes Klaipeda.“ Schwarze Erinnerungen standen für: traurig, alles war schlecht, für: wie sind hier fremd geblieben - das sind die Erinnerungen der Memelländer.

Fragt man Silva Pocyté nach ihren Gefühlen, überlegt sie nicht lange. Sie sitzt unter ihren Urkunden in diesem imposanten Backsteingebäude, das einmal eine Kaserne gewesen war und sie sagt: "Durch das Memelland kann ich meine Identität akzeptieren. Das ist für mich sehr wichtig."

Sturm der Vergeltung

Politisch war das Memelland bis zum Ersten Weltkrieg der Nordostzipfel Ostpreußens. Als die Siegermächte die Grenzen neu festlegten, stand das Memelland ab 1923 unter litauischer Verwaltung. In Klaipeda/Memel wurde weiterhin überwiegend deutsch gesprochen. Im März 1939 musste die litauische Regierung das Territorium wieder an Deutschland abtreten. Ab Januar 1945 wurde das Memelland Teil der Sowjetrepublik. Seit der Unabhängigkeit Litauens 1990 gehört es heute bis heute zu Litauen.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges zählte das Memelland etwa 150 000 Einwohner, davon lebten knapp ein Drittel in der Hauptstadt Klaipeda (Memel). Mit dem Rückzug der Wehrmacht wurde die Bevölkerung evakuiert. Klaipeda/Memel fiel weitgehend menschenleer in die Hände der Roten Armee. Während des Stalinismus war die deutsche Abstammung Grund für Haft oder Verbannung. Viele Rückkehrer oder die, die vor Ort geblieben waren, gaben sich als Litauer aus, um zu überleben. 

Wie die Preußen waren die Memelländer überwiegend protestantisch, im Gegensatz zu den eigentlichen Litauern. Jahrzehntelang waren sie Menschen dritter Klasse: nach Russen und Litauern. 

Nirgends sind im Vergleich mehr Juden im Holocaust umgekommen als in Litauen; 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung wurden vernichtet; umgebracht von SS-Truppen und einheimischen Helfershelfern, die deutschen Truppen waren gern gesehen im Land. Die Zustimmung zu den Nationalsozialisten war in Ostpreußen höher als sonst im Reich - bei den letzten beiden freien Wahlen im Jahr 1932 lag die NSDAP bis zu zehn Prozent über dem Reichsdurchschnitt.

Als Hitlers Krieg verloren war, erlitten zugleich Millionen Deutsche eine andere Tragödie unfassbaren Grauens. "Ein Sturm von Vergeltung fegte durchs Land", so der Historiker Klaus-Dietmar Henke; gefoltert, ermordet, vertrieben, vergewaltigt; insgesamt etwa 14 Millionen Deutsche und Deutschstämmige verloren ihre Heimat.