„Wir sind wie Tote gewesen.“ Dara Mayer stützt ihren Kopf auf eine Hand, nimmt einen Zug von ihrer Zigarette, man sieht, wie die Erinnerung in ihr arbeitet, man spürt, wie die Bilder sich schwer auf ihre Brust legen; ihr Blick sucht irgendwo Halt in der Ferne.
Die Geschichte von Dara Mayer ist die Geschichte eines Landes. Sie erzählt von der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Zerfall von Jugoslawien und wie danach die Hölle losbrach. Und sie erzählt davon, wie lange vor all dem Menschen aus anderen Teilen der Welt sich hier am Ufer der Donau niederließen, im Gepäck ihre Sehnsüchte und Träume. „Politik ist eine Hure“, sagt Dara Mayer jetzt. Jedes Wort Resignation, Trauer, Enttäuschung.
Es ist ein heißer Tag im Juni. Seit anderthalb Stunden sitzen wir in einem Eiscafé in der Fußgängerzone des kroatischen Vukovar; die Grenze von hier nach Serbien ist nicht weit; nur die Donau trennt die beiden Länder voneinander, wenn man wollte, könnte man eben vorbei gehen. Die Sonne steht bereits tief, Dara Mayer hatte einen langen Tag hinter sich. Seit ihrer Rente arbeitet die 70-Jährige als Stadtführern, und wenn die Zeiten coronabedingt auch eine Weile zurückliegen, als jährlich im nahegelegenen Hafen von Aljmas 300 Kreuzfahrtschiffe anlandeten und es so auch viele Touristen nach Vukovar spülte; lassen die Aufträge ihr aktuell dennoch kaum Zeit zum Atmen. Sie ist die einzige deutschsprachige Fremdenführerin in der Region.
In ihrer Jugend hatte Dara Mayer in Banja Luka mit einem Stipendium Tourismus an der Universität für Ökonomie studiert; sie wollte Stewardess werden. Dann aber lernte sie ihren Mann kennen, zufällig in einer Eisdiele schräg gegenüber, heute ist darin eine Bäckerei, und es kam anders. Sie bekam drei Kinder, sie übernahm eine Arbeit als Bankangestellte, die Stelle war gut, sagt sie, es hätte immer so weitergehen können.
Vukovar ist ein kroatisches Trauma. Vor dem blutigen Konflikt lebten hier 22 Nationalitäten - zumindest nach offizieller Lesart - friedlich miteinander. 1991 aber, nach Kroatiens Unabhängigkeitserklärung, belagerten über 87 Tage Truppen der jugoslawischen Volksarmee und serbische Freischärler die Stadt. Als Vukovar nach fast drei Monaten fiel, waren Hunderte tot, Tausende verwundet, 90 Prozent der Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Und auch wenn Vukovar heute wieder auferstanden ist, die Narben haben sich tief eingebrannt; sichtlich - und noch tiefer in die Seelen der Menschen.
Als die ersten Bomben fielen, glaubte Dara Mayer wie so viele, das Ganze würde bald vorübergehen. „Wir waren bekloppt“, sagt sie, ein Satz, den man in der Gegend häufig hört, weil sich damals niemand vorstellen konnte, dass schon bald die Häuser in Trümmer liegen werden, Angehörige geschlagen, gefoltert, getötet würden, dass Keller oder Erdlöcher die einzige Zuflucht bieten, dass ihre Welt unter Hass und Fanatismus begraben wird.
Erst, als direkt neben ihrer Arbeitsstelle eine Granate einschlug, wusste Dara Mayer, dass die Lage aussichtslos war. Doch wohin, wenn nichts mehr Option ist? Und wie die Menschen in der Ukraine in diesen Tagen machte sie sich mit ihren Kindern und Tausenden anderen auf den Weg und ließ ihre Heimat hinter sich - mit dem Unterschied, dass sich damals die wenigsten für den Krieg auf dem Balkan interessierten. Kaum jemand bot Hilfe an. Niemand empfing Dara Mayer mit Kaffee und warmen Worten am Bahnhof. Es gab keine Berichterstattung rund um die Uhr. Die Welt, Europa sah die meiste Zeit teilnahmslos zu.
Sechs Jahre "duldete" - wie es hieß - Deutschland ihren Aufenthalt; solange, bis Vukovar unter Aufsicht der Uno 1998 an Kroatien zurückgegeben wurde. Zuerst arbeitete sie in Nordrhein-Westfalen in der Küche eines Pflegeheims, dann selbst in der Pflege, später machte sie zusätzlich eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Der Versuch, als Spätaussiedlerin anerkannt zu werden und damit womöglich ein Bleiberecht zu erhalten (Vater und ihre Mutter waren Donauschwaben), scheiterte an der Ignoranz einer deutschen Beamtin, die den Antrag mit dem Hinweis auf ihren eigenen - französischen - Wurzeln ablehnte und zugleich erklärte, nicht auf die Idee kommen zu würden, deswegen gleich Französin werden zu wollen. Feingefühl, wie man es sich wünscht. Dass Dara Mayer nach ihrer Rückkehr nach Kroatien in Vukovar den Verein für deutsche Minderheiten über Dekaden mit großer Hingabe leitete, nennt man wohl die Ironie der Geschichte.
Dara Mayer hat Zuhause ein Bild von sich liegen aus den Tagen der Flucht. Es zeigt eine Frau in jungen Jahren, abgekämpft, abgemagert, müde. "Wir waren wie Gespenster. Wir sind wie Tote gewesen. Ohne Zuhause, ohne Zukunft."
Ob sie Angst vor den aktuellen politischen Entwicklungen hat?
"Angst?", fragt sie zurück. Sie nimmt einen Zug von der Zigarette und sagt: "Meine Angst ist im Krieg geblieben."
Am 25. Juni 1991 zerfiel mit der Abspaltung Sloweniens und Kroatiens der Vielvölkerstaat Jugoslawien, ein blutiger Bruderkampf begann. Serbische Freischärler und die jugoslawische Bundesarmee belagerten Vukovar, Osijek und Dubrovnik. Vukovar wurde nie militärisch zurückerobert, erst unter der Ägide der Uno erhielt mit dem Vertrag von Erdut Kroatien 1998 die Stadt zurück. Die dort lebenden Serben konnten zwar in der Region bleiben, doch bis heute leben die Bevölkerungsgruppen zum Teil getrennt, in den Schulen lernen die Kinder in getrennten Klassen. Jede Seite benutzt dabei die eigene Lesart des Krieges.
Wahrzeichen für die Schlacht um Vukovar ist der Wasserturm der Stadt - getroffen von 640 Projektilen, verschlissen von Einschüssen, dient das heute gesicherte Gebäude als Museum. Kroatische Schüler und Schülerinnen werden mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter zu einem Schulbesuch verpflichtet. Das von Touristen wohl am meisten fotografierte Gebäude ist eine alte Apotheke (siehe tragende Optik). Das zerstörten Haus befindet sich in serbischer Hand; um es zu sanieren, fehlt von offizieller Seite der Wille. Bei anderen noch immer vom Krieg zerstörten Fassaden sind entweder Besitzverhältnisse ungeklärt, es mangelt an finanziellen Mitteln oder es ist die bewusste Entscheidung, das Ganze als eine Art Mahnung zu erhalten.
2005 verurteilte ein Sondergericht in Belgrad 14 angeklagte Serben zu fünf bis 20 Jahren Gefängnis für die Misshandlung und Erschießung von über 200 gefangenen Kroaten auf der Schweinefarm Ovcara. Nach der Einnahme Vukovars durch die jugoslawische Armee im November 1991 waren die Opfer aus dem städtischen Krankenhaus abgeführt worden. Ihre Leichen hatte man später in Massengräbern verscharrt.
In Vukovar lebten im 19. Jahrhundert 10 500 Einwohner; darunter 3650 Kroaten, 3600 Deutsche, 2600 Serben, 960 Ungarn und noch andere Minderheiten. Heute berufen sich in Vukovar (20 000 Einwohner) noch 51 Einwohner auf ihre deutschen Wurzeln; 100 sind es im gesamten Kreis.
Der Verein der Deutschen und Österreicher kümmert sich um die Belange der deutschsprachigen Minderheit. Es gibt den Chor "Drei Rosen", der unter anderen einen jährlichen Ball organisiert.