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Tapferes kleines Land

Wo anfangen, wo aufhören? Die Zeit, sie rinnt durch die Finger, kaum greifbar, Staub in den Händen, schon wieder ein neuer Tag. Die Reise vor etwa über zwei Wochen begonnen im Südwesten des Landes, dann ein erstes Einstimmen, erste Irritation, so viel Armut, so viel Nichts in der Weite. Der Ton der Menschen dabei häufig rau, die Rücken gebeugt von Enttäuschungen, die Haut verbrannt von der Sonne,  die Herzen gebrochen, das Land zerrieben zwischen den Welten. Im Norden Russland, das den Wohlstand bringen könnte, links der Westen, der viel fordert, viel verspricht und vieles doch nicht hält. Mit dem Rücken zur Wand sind selten gute Entscheidungen zu treffen. Vorwärts? Rückwärts? Feind? Freund? Auch man selbst ist zerrissen. Der Weg weiter Richtung Osten bleibt von Aserbaidschan versperrt; Einreise mit dem alten Volvo nicht möglich. Mit der Fähre übers Schwarze Meer also zurück nach Bulgarien, von dort via Rumänien ins Baltikum? Der Pass liegt jetzt in Deutschland und wartet auf ein Visum nach Russland. Warten. Warten. Alles in der Schwebe. Das Schwierigste sind Entscheidungen. Was ist richtig? Was ist falsch? Man fühlt mit Georgien. Tapferes kleines Land. In so viel schwieriger Zeit. Und jeden Moment - alles könnte kippen.

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Schaffe, schaffe

Tamara hat gekocht. Mit kleinen eiligen Schritten läuft sie durch ihre Küche. Zupft an ihrem Kleid. Lacht. Freut sich. Der Besuch tut ihr gut. Es kommen nicht mehr viele Gäste. Ihre Schwester ist krank. Ihre Tochter lebt in Russland. Ihr Mann ist vor vier Jahren verstorben. Tamara sagt, die Zeiten sind schwer geworden. 

Tamara ist 80 Jahre alt. Sie lebt in Bolnisi, einer kleinen Stadt im Süden Georgiens. Im 19. Jahrhundert hatten sich deutsche Pietisten hier niedergelassen; bauten Straßen, bauten Häuser, bauten Wein an - und wenn die Deutschen nicht schon wieder der Größenwahn befallen hätte, wer weiß, wahrscheinlich wäre das Auskommen hier im Südkaukasus nach all den Entbehrungen irgendwann auch ein Süßes geworden. Dann aber kam 1941 - und alles änderte sich. 

"Kummsch ässe", sagt Tamara. Es gibt Borschtsch. Kartoffeln, Kraut. Dazu Brot. Etwas Käse. "Kummsch ässe." Tamara spricht diese Worte in breitem Schwäbisch aus. Georgisch hat sie nie gelernt, obwohl sie hier geboren wurde. In Deutschland ist sie nie gewesen, obwohl Deutsch ihre Muttersprache ist. Tamara ist eine der letzten Schwäbinnen in Bolnisi. Wie auch sie war ihre Mutter mit einem Armenier verheiratet, das rettet die Familie vor der Deportation nach Kasachstan. "Drum sinmmer do gebliwwe." Mischehe. Kein gutes Wort.

"Kannst du hochdeutsch, Tamara?, frage ich sie, sie lacht, "a bisserl", sagt sie - "D' Mama hädd immer hochdeutsch geschwätzt."

Tamara trägt ein grün-schwarzes Kleid, sie hat sich die Haare zurecht gemacht, nein, sie selbst will nichts essen, es ist ihr zu früh. Lieber schaut sie zu und lächelt ihr verschmitztes Lächeln, ihre kleinen Schritte tragen sie über die Dielen; sie weicht nach links aus, weicht nach rechts aus, Küchentanz. Tamara ist in diesem Haus geboren, jede Diele, jedes Knarren, alles ist ihr vertraut, sie sagt, sie wird hier auch sterben. Früher - in der Kindheit- sind sie zu fünft gewesen. Geblieben ist ihr nur noch die Schwester. Tamara kocht für sie. Eine 80-Jährige, die sich um eine 93-Jährige sorgt. "Schaffe, schaffe" - so war es früher. Und so ist es noch heute.

Ein paar Straßen entfernt sitzt Julia an ihrem Wohnzimmertisch. Sie wirkt nachdenklich. Ihre grauen Haare hat sie zu einem Seitenscheitel gelegt. Mit ihren schönen blauen Augen schaut sie in den Raum, ihre Finger kreisen unruhig ineinander. In einem früheren Leben ist Julia verheiratet gewesen. Weil sie aber keine Kinder bekommen konnte, trennte sich ihr Mann von ihr. Julia adoptierte dann ein Mädchen. Das Mädchen bekam irgendwann selbst eine Tochter. Heute kümmert sich Julia um die Enkelin; ihre Adoptivtochter ist vor vier Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben. Anastasia, die Enkelin, ist jetzt 12 Jahre alt. Sie teilt sich mit ihrer Großmutter einen Raum zum Schlafen. Zwischen beiden Betten liegen allenfalls zwei Meter. Julia hat es nicht leicht mit Anastasia, dem Teenager. Anastasia hat es nicht leicht mit ihrer Großmutter. Es sind schwierige Alter. 12 und 90. 

"Alles vergesse", sagt Julia. Wie Tamara spricht sie schwäbisch. Längst nicht mehr so fließend wie Tamara, aber wie sie ist sie damit aufgewachsen. Zumeist aber flüchtet Julia ins Georgische oder Russische, das gibt ihr Halt. Julia deckt den Tisch, es gibt Kaffee, Gebäck und Chatchapuri, das traditionelle georgische Brot, gefüllt mit Käse. Julia redet ihrer Enkelin ins Gewissen, sie soll helfen. Julias Haus besteht aus drei Räumen.  Schlafzimmer. Wohnzimmer. Küche. Alles ist aufgeräumt. Alles Wenige hat seinen Platz. Eine kleine schwäbische Blase in der georgischen Weite. 

300 Lari erhält Julia als Rente und dann noch zusätzlich 100 Lari Rente für die verstorbene Tochter. Macht 400 Lari, also 140 Euro zum Leben im Monat. Ein Teenager hat Wünsche, die Schule stellt Ansprüche, eine Pensionärin mit georgischer Rente wird sie nie erfüllen können. Das Verhältnis zwischen Julia und Anastasia ist gerade schwierig. 

Julia ist in ihrem Leben nie über Bolnisi und Tbilissi hinausgekommen, die Hauptstadt liegt 60 Kilometer entfernt. Immer schaffe, schaffe. So war es früher. Und so ist es noch heute.