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Herr Leider sucht seine Vergangenheit

Er läuft die Straße auf und ab, die Finger spielen unruhig mit dem Handy, er lacht, er muss gar nicht sagen, wie aufgeregt er ist; die Anspannung ist zu sehen, ist zu spüren. Eduard Leider hat eine weite Reise hinter sich. Sie begann vor 54 Jahren in Kasachstan - und hier und heute nun in Asureti, im Süden Georgiens, erhofft er sich Antworten auf seine Fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her?
„Wenn ich mir vorstelle, dass meine Mutter hier geboren wurde...", er spricht den Satz nicht zu Ende, wie er viele Sätze nicht zu Ende spricht, weil er im Moment viel zu nervös ist, um klar zu denken; zu viele Dinge im Kopf, zu viele Erinnerungen, Familiengeschichte, Familienbande. 

Vor wenigen Minuten erst war er mit einem Freund hier in Asureti mit dem Mietwagen angekommen. Es ist sein erster Aufenthalt in Georgien. Er selbst wurde in Qostanai in Kasachstan geboren, im Dezember 1993 wanderte er von dort nach Deutschland aus. Heute lebt er mit seiner Frau im Schwarzwald, - und wenn man ihn fragt, wo seine Heimat ist, dann zuckt er mit den Schultern und sagt: „Das weiß ich nicht. In Kasachstan waren wir die Faschisten, in Deutschland bin ich der Russe.“ 

Eduard Leider teilt das Schicksal vieler Spätaussiedler; aufgenommen, aber nicht angenommen, unterstützt - mit Widerwillen. Irgendwie daheim und irgendwie doch nicht. Seine Mutter war zusammen mit dem Rest der Familie 1941 aus Asureti - damals Elisabethtal -  nach Kasachstan deportiert worden. 24 Stunden blieb damals Zeit, das Nötigste einzupacken. Der Großvater schlachtete im Keller in aller Eile noch ein Schwein, das Fleisch rettete die Familie auf der wochenlangen Reise vor dem Verhungern. Aber was war das für ein Leben dann später dort draußen in der Steppe? Der Identität beraubt, statt einem Haus ein Erdloch zum Wohnen, kaum etwas zu heizen, kein Trinkwasser, kein Licht.  

Eduard Leider erzählt davon in schnellen Sätzen; in der Hand noch immer das Handy - und eine Telefonnummer, sein Anker. Von der Deportation nach Kasachstan war damals im Dorf so gut wie niemand verschont geblieben, inzwischen leben lange Georgier in den ehemaligen deutschen Häusern. Allerdings, es gibt eine Ausnahme.

Der Weg dorthin führt durchs Dorf über die inzwischen sanierte Schwabenstraße. Irgendwo hier muss das Geburtshaus seiner Mutter stehen, irgendwo hier gab es ein Leben vor dem Leben in Kasachstan. Mit Familienfesten, Taufen, Gottesdiensten. 

Eduard Leider kennt das Früher nur aus Erzählungen; er weiß keine Hausnummer und sucht doch an jedem Haus nach einem Hinweis. Er geht die Straßen auf und ab; getrieben, rastlos, fragend. Und schließlich, endlich sitzt er am Tisch von Guram Schall. Und wenn es stimmt, was die beiden vermuten, ist der eine des anderen Onkel. Die Männer lachen. Sie tauschen Fotos aus. Es gibt Schaschlik. An der Wand ruht neben der BVB-Bahne der Bundesadler. Und mit etwas Glück führt die Geschichte hier zusammen. Mit etwas Glück finden sich fehlende Puzzleteile. Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Ein Anfang aber ist gemacht.  Vergangenheit, Zukunft - Georgien, Kasachstan, Deutschland - und wieder zurück.

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Auf einen Blick

Unmittelbar nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion wurden 1941 auf Erlass des Obersten Sowjets alle Deutschen zu potenziellen Feinden erklärt; betroffen von der Umsiedlung waren in Georgien 23580 und in Aserbaidschan 22 741 Menschen. Insgesamt wurden mehr als 44 000 Deutsche nach Kasachstan deportiert. In der sowjetischen Amtssprache nannte man sie "Sonderumsiedler". Dadurch erreichte die deutsche Bevölkerung in Kasachstan 1945 eine Gesamtzahl von über 500 000 Personen.

Laut Anordnung durften die Deutschen dabei nicht in den Städten, sondern ausschließlich auf dem Land untergebracht werden; dort allerdings gab es weder geeigneten Wohnungsraum noch Vieh oder Getreide. Erst 1954 erleichterte sich das Leben der Deportierten, zum ersten Mal durften sie wieder ihren Wohnort und die Arbeitsstelle innerhalb des jeweiligen Verwaltungsgebiets frei wählen.

Eine Regierungserlass von 1948 legte die Verbannung der Deutschen und anderer "bestrafter Völker" auf "ewige Zeiten" fest. Noch bis 1955 wurden die Deutschen in den jeweiligen Verbannungsorten unter Sonderkommendantur gestellt und mussten sich jeden Monat beim örtlichen Vorgesetzten melden.

Am 14. November 1989 erklärte der Oberste Sowjet der UdSSR die Deportation für gesetzwidrig und verbrecherisch. Zwischen 1987 und 1990 stieg die Zahl der Aussiedler aus der Sowjetunion von 753 auf 147 950. 2015 wurde die Zahl der "Russlanddeutschen" in der Bundesrepublik mit  etwa 2,5 Millionen angegeben.

 

Kolonien

Im heutigen Georgien wurden ursprünglich fünf Mutterkolonien gegründet - Marienfeld, Neu-Tiflis, Alexandersdorf, Elisabethtal, Katharinenfeld. Elisabethtal geht auf die Initiative von 65 schwäbischen Familien zurück.

1918 belief sich die deutsche Bevölkerung in Südkaukasien auf über 25 000 Personen. Die zahlenmäßig größten Kolonien waren Elisabethtal mit 1500 Einwohnern, Helenendorf (Aserbaidschan) mit 2157 Deutschen und Katharinenfeld (Bolinsi/Georgien) mit 3700 Deutschen (Stand 1926).