Facebook Instagramm Vimeo

Heimat im Herzen.

Estland, Lettland, Litauen: Je näher Deutschland rückt - und damit das Ende dieser Reise, desto größer wird die Sehnsucht nach der zurückgelassenen Ferne, nach der Fremde. Und wenn mich rückblickend etwas am wenigsten bekümmerte, dann war es Heimweh. Sicher, es hat immer mal Momente der Einsamkeit gegeben oder die Sehnsucht nach der Familie und dem Freund. Aber das Bedürfnis, an einen bestimmten Ort in der Heimat zurückkehren zu wollen, das hatte ich nicht. 

Bei Ants Ale aus dem estländischen Haeska ist das anders. Der 62-Jährige verspürte nie den Wunsch, seine Umgebung verlassen zu wollen, es gab keinen Grund, wie er sagt. Zusammen mit seiner Frau  wohnt er in einem alten Haus mitten im Matsula Nationalpark an der Ostsee. Tritt er vor die Tür, steht er mitten in einem der friedlichsten und schönsten Flecken Estlands. Sein Großvater, sein Vater, alle sind sie hier aufgewachsen, und eines Tages wird sein Sohn den Hof übernehmen. Der Rest der Welt, sagt er, der hat ihn nie gereizt, wenigenstens nicht zum Urlauben - und wenn überhaupt, dann verbringt er seine Ferien in Finnland oder Schweden, dort sieht es dann genauso aus wie hier. Manche Menschen brauchen das, Ants braucht das, meine Mutti braucht das, Heimat in der Ferne. Deswegen auch zog es viele der deutschen Siedler in die Regionen, die der Heimat wenigstens landschaftlich am ehesten glichen; von der Pfalz, von Hessen nach Pennsylvania oder in die Bukowina, und natürlich macht es einen Unterschied, ob man zum Aufbrechen gezwungen wird oder freiwillig geht.

In Nida auf der Kurischen Nehrung ruht auf einer Anhöhe das Ferienhaus von Thomas Mann. Drei Sommer verbrachte der Schriftsteller mit seiner Familie dort. Mit der Machtübernahme der Nazis emigrierte er dann in die USA. „Wo ich bin, ist Deutschland“, sagte er bei seiner Ankunft in New York. Heimat im Herzen. Den Platz kann einem wenigstens niemand nehmen.

------------------

Schwieriges Erbe

Estland und Lettland gehören zur historischen Kulturlandschaft des Ostseeraumes, in der die Landwirtschaft über Jahrhunderte von der Gutswirtschaft bestimmt wurde. Baulicher und administrativer Mittelpunkt der Gutshöfe waren die Herrenhäuser. Die frühesten entstanden im späten 15. frühen 16. Jahrhundert.

Erbaut, bewohnt und bewirtschaftet wurden die Häuser zumeist von der adeligen deutschen Oberschicht. Die Esten übernahmen dagegen die Rollen der Angestellten. 1919, ein Jahr nachdem Estland zur Republik ausgerufen worden war, wurden im Zuge einer Landreform die Besitzer enteignet. Die meisten von ihnen verließen ihre Heimat in Richtung Deutschland oder Schweden.

Die Webseite www.mois.ee listet einen Großteil der Herrenhäuser in Estland auf; sie erzählt die Geschichte der Gutshäuser und zeigt Fotos der Anwesen. Auf einer virtuellen Karte lässt sich gut die Verteilung ersehen.




Die Bewahrer

Über Jahrhunderte symbolisierten die Herrenhäuser in Estland die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Arm und Reich. Inzwischen wandelt sich das Bild. Mirije Tammaru sagt: "Zunehmend wird das deutschbaltische Erbe als Teil der estländischen Kultur akzeptiert."

Die 50-Jährige hat ihren Master über die Gutshäuser geschrieben; Mois, wie sie hier heißen. Sie sprach mit Eigentümern, arbeitete sich durch Dokumente, fotografierte, katalogisierte, fünf Jahre widmete sie sich den Recherchen, herausgekommen ist eine eindrucksvolle Abhandlung über die Vergangenheit, Zukunft und Bedeutung der Gutshäuser. Jetzt sitzt sie vor einem Stück Kuchen im Café "Haspel Dietrich" im idyllischen Haapsalu und sie erzählt von den Schwierigkeiten der Arbeit und wie sie Monat um Monat durchs Land reiste. Wenn sie Glück hatte, fand sie einen Hauseigentümer, mit Glück war derjenige bereit zu reden, viele Male aber war sie vom Glück verlassen. "Es war nicht einfach", sagt sie; das Zusammentragen der Daten, das Aufspüren von Informationen, wie eine Detektivin folgte sie den Spuren der Vergangenheit. Und dank ihres Engagements verfügt Estland nun über eine detaillierte Sammlung zum Thema Herrenhäuser, wobei sich ihre Arbeit vor allem auf die Nebengebäude der Anwesen konzentrierte, das Wissen darüber war bisher eher spärlich.

2000 Herrenhäuser existierten einst auf dem Gebiet des heutigen Estlands, aber auch im Rest des Baltikums finden sich die Zeitzeugen der untergegangenen Epoche. Im 13. Jahrhundert hatten sich im Gefolge der Kreuzritter die Einwanderer aus Westfalen, Niedersachsen und Lübeck hier niedergelassen; Kaufleute, Handwerker, Großgrundbesitzer, sie kamen mit Geld und verdienten noch mehr Geld, später vor allem mit dem Brennen von Wodka. Die meisten der noch erhaltenen Anwesen entstanden dabei im 19. Jahrhundert. 70 Prozent der Landfläche in Alt-Livland waren damals im Besitz der Deutschbalten, kaum ein Wunder also, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Angestammten lange Zeit schwierig war. 

"Es ist ein komplexes Thema", sagt Mirije Tammaru. Sie selbst ist Nachfahrin einer Deutschbaltin. Ihre Mutter wurde im Osten Estlands in einem Herrenhaus geboren, ihre Großmutter hatte dort als Kindermädchen gearbeitet, ihr Großvater war dort Gärtner.

Die meisten Gutshäuser überdauerten die Zeit der Unabhängigkeit nicht; viele der Anwesen verfielen, zu Sowjetzeiten nutzte man sie als Krankenhäuser, Altersheime oder Schulen. Inzwischen aber sanieren immer mehr Enthusiasten die alten Mauern mit großem Aufwand.

Einer von ihnen ist Janis Stepini. Der Kunsthistoriker zog 1998 mit seiner Frau und seinem ersten Kind vom lettischen Riga in den Miniort Karli. Und er begann, ein Nebenhaus des ehemaligen Gutshofes zu einem Drei-Sterne-Hotel umzubauen. Das Haupthaus selbst war nicht mehr zu retten gewesen, es war bei einem Brand zerstört worden. Inspiriert von der Lage und Geschichte der Region schrieb er später ein Buch; Hauptfigur darin: das Herrenhaus Karla Luiza. Zwei Jahre hatte er an dem Band gearbeitet, er sagt: "Als wir das Grundstück kauften, wussten wir wenig über die Geschichte des Anwesens, jetzt hat alles einen Sinn bekommen." Und Mirije Tammaru aus Haapsalu meint: "Jahrelang hat sich niemand um die Geschichte gekümmert, vieles liegt und lag in Trümmern. Aber langsam erkennen die Menschen die historische Bedeutung."

Momente