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Gruß aus einer anderen Welt

Sie war 27 Jahre alt, als sie das erste Mal ihrem Vater gegenüberstand. Was sie dachte, was sie fühlte in diesem Moment, daran kann sich Erika Weber heute nicht mehr erinnern, sie weiß aber, was ihre Mutter damals sagte: „Wo waren meine Augen bei der Hochzeit.“ Es war als Scherz gemeint, im Kern aber war es tief traurig. Ihr Vater war inzwischen ein alter Mann, die Zeit hatte Spuren hinterlassen. Er war ein Totgeglaubter, auferstanden aus der Vergangenheit.  

Erika Weber, 78 Jahre alt, zwei Mal verheiratet, Witwe, ist eine kleine Frau, die eine große Energie ausstrahlt. Obwohl sie hinter ihrem Schreibtisch in Tallinn fast zu verschwinden scheint, fühlt sie mit ihrer Präsenz den ganzen Raum. Das Leben hat sie kämpfen gelehrt, sie ist eine Löwin. Lacht sie, verschluckt sich ihre Stimme. Es ist ein raues stolperndes Lachen, es ist das Lachen von jemandem, der es gewohnt ist, sich Problemen mit breiten Schultern in den Weg zu stellen.

Ob unser Treffen wirklich zustande kommen wird, daran hatte es zunächst Zweifel gegeben. Erika Weber lebt seit Jahren mit einer Muskelschwäche, immer wieder verbringt sie deswegen Zeit im Krankenhaus. Es begann damit, dass sie von einem Tag zum anderen ihre Augen nicht mehr öffnen konnte, dann zog die Krankheit in die Beine, jetzt läuft sie an Krücken. Früher, sagt sie, habe sie immer zwei Stufen auf einmal genommen. Das geht jetzt nicht mehr. Aber deswegen aufgeben?

Die Mutter ist 19 Jahre alt, als sie ihren späteren Ehemann in Tallinn kennenlernt. Sie, die Estin mit russischen Wurzeln  bis hin in die Zarenfamilie. Er, der Deutschbalte, elf Jahre älter. Beim Frisieren im Herrensalon wäscht sie ihm nicht nur die Haare, sie verdreht ihm gleich noch den Kopf, Ende 1932 ist  das. Ein Jahr später sind die beiden verheiratet. Es sind glückliche Jahre. Ein Sohn wird geboren. Dann kommt 1939. Eine Woche vor dem Angriff auf Polen schließen die Erzfeinde Hitler und Stalin ein Geheimabkommen; Estland und Lettland fallen an die Sowjetunion. Für die Deutschstämmigen bedeutet das: Umsiedlung heim ins Reich, wobei "heim" in diesem Fall Umsiedlung in die annektierten Gebiete Polens meint. In Gnesen im sogenannten Reichsgau Wartheland kommt 1944 Erika zur Welt. Und während der Vater seinen Dienst als Dolmetscher an der Front leistet, harren Frau und Kinder im Hinterland aus. Dann endet der Krieg - und die Spur vom Vater verliert sich. 

Erika Weber erzählt das alles beinahe atemlos. Erzählt von der Mutter, wie die Dokumente vernichtet, um einer Deportation nach Sibirien zu entgehen; aus dem deutschen Ehemann wird ein estländischer, zumindest auf den Papieren. Erzählt von den Wiederanfängen in Tallinn, wie sie dort zwischen toten Ratten leben, zu Fünft auf zehn Quadratmetern. Erzählt, wie ihr deutscher Nachname sie an der Schule zur Außenseiterin macht, kein Paradiesvogel, ein weißer Rabe sei sie gewesen, sagt sie. Und sie erzählt von den vergeblichen Versuchen des Vaters, die Familie wiederzufinden. Übers Rote Kreuz. Über die sowjetischen Behörden. Die Antwort dabei immer dieselbe: "Keine Angaben zum Verbleib".

Erst ein Urlaub in Finnland bringt die Wende, da ist der Vater bereits Rentner. Bei einem Tagesausflug nach Tallinn trifft er einen Bekannten; dem nimmt er das Versprechen ab, ihm bei der Suche zu helfen, der Mann hält Wort. Kurz vor Weihnachten 1970 trifft dann der erste Brief vom Vater in Tallinn ein. "Es war ein Gruß von einer anderen Welt. Wir haben doch nicht gedacht, dass er noch am Leben ist", sagt Erika Weber; er hatte all die Jahren in Bayern verbracht. Weder er noch ihre Mutter hatten in der Zwischenzeit wieder geheiratet. "Mutti konnte sich keinen anderen Mann für ihre Kinder vorstellen."

11 Jahre bleiben Erika Weber mit ihrem Vater. 1983 stirbt er.
"Die Zeit", sagt sie, "ist so schnell vergangen."

Grenzgänger

Im Oktober 1939 fordert Hitler die Deutschbalten in Estland und Lettland zur "Heimkehr ins Reich" auf und entsendet für ihre Abreise eine Schiffsflotte nach Riga und Tallinn.

Rund 100 000 Deutsche werden bis 1941 umgesiedelt, die meisten in den "vom Reich zurückgewonnenen Ostraum", nach Polen, nicht wenige Deutsche folgen der Aufforderung mit Enthusiasmus. Der Abzug der Deutschbalten ist Teil einer geheimen Zusatzvereinbarung des Hitler-Stalin-Paktes, die auch die Annexion des Baltikums durch Stalin vorsieht. Im Juni 1940 marschiert die Rote Armee ein, Zehntausende Angehörige der baltischen Eliten werden nach Sibirien deportiert.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 folgt eine Phase deutscher Besatzung.: Innerhalb von drei Jahren wird, mithilfe einheimischer Kollaborateure, fast die gesamte jüdische Bevölkerung der baltischen Länder ermordet, ungefähr 275 000 Menschen. Und noch immer haben Gewalt und Vertreibung kein Ende: Als die Sowjets 1944 das Baltikum erneut erobern, werden die wenigen beinahe letzten verblieben Deutschbalten in die östliche Sowjetunion deportiert, die deutsche Sprache bleibt bis zum Systemwechsel verboten. Durch den Zerfall der Sowjetunion erlangen die baltischen Staaten erneut ihre Unabhängigkiet, die ersten deutschen Vereine in Estland etablieren sich.

Nach einer starken Abwanderung in den 1990er Jahren leben heute noch wenige Hundert Deutschbalten in ganz Estland. Von den fünf deutschen Vereinen gibt es heute nur noch jeweils eine Gruppe in Tallinn, Tartu und in Narva. Der Verein der Deutschen in Estland ist eine Dachorganisation für alle in Estland lebenden Deutsche, die überwiegende Mehrheit sind allerdings  Russlandsdeutsche, die nach Estland aus verschiedenen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind.